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"Keine Last, sondern Gewinn"

Von Alexander Dworzak

Politik
© Stanislav Jenis

Ex-Premier Jean Chrétien erklärt, warum Einwanderer in Kanada willkommen sind.


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Wien. 40 Jahre war Jean Chrétien in der Politik tätig, von 1963 bis 2003. In dieser Zeit, insbesondere als der Liberale von 1993 bis 2003 Premier war, wandelte sich das einst schwer verschuldete Kanada in einen prosperierenden Staat. Bevor er Premier wurde, war der mittlerweile 80-Jährige unter anderem Handels-, Finanz- und Justizminister sowie für die Bergbau-Agenden zuständig. Der Politiker aus Québec stemmte sich vehement und letztlich erfolgreich gegen die Sezession der mehrheitlich französischsprachigen Provinz. Und auch der damalige US-Präsident George W. Bush bekam Chrétiens Beharrlichkeit zu spüren: Dieser weigerte sich 2003, kanadische Truppen in den Irak zu entsenden.

Jean Chrétien weilte anlässlich eines Treffens des InterAction Council in Wien, einer Plattform, bei der frühere Staats- und Regierungschefs und Religionsgelehrte unter dem Motto "Ethische Prinzipien im politischen Handeln" diskutierten.

"Wiener Zeitung": Während Ihrer Zeit als Premierminister stieg die Zahl der Zuwanderer nach Kanada stark an. Kamen einst drei Viertel der Migranten aus Europa, sind es mittlerweile zu mehr als 50 Prozent Personen aus Asien. Kanada ist ethnisch, sozial und religiös pluralistisch wie nie zuvor, die Akzeptanz für Multikulturalismus deutlich höher als in Europa. Warum?

Jean Chrétien: Kanada war schon immer ein gutes Beispiel für Toleranz. Seit 300 Jahren wandern Personen zu, mittlerweile handelt es sich bei der Hälfte der knapp 35 Millionen Einwanderer um Migranten in erster, zweiter oder dritter Generation. Multikulturalismus bedeutet für Zuwanderer in Kanada, stolz auf ihr kulturelles Erbe sein zu dürfen und gleichzeitig mit den bereits im Land Befindlichen gemeinsam Verantwortung für Kanada zu tragen. Wir verlangen von niemandem, etwas aufzugeben.

Andere Länder haben auch eine lange Einwanderungstradition. Dort
geht es aber weniger um Integration als um Assimilation. Was macht Kanada anders?

Nehmen Sie mich: Französisch ist meine Muttersprache, und ich bin sehr stolz darauf. Ich bin gleichzeitig stolzer Québécois und stolzer Kanadier. In Kanada laden wir Menschen ein, anstatt ihnen etwas aufzuzwingen. Immigranten werden nicht als Last angesehen, sondern als Gewinn. Der Erfolg des Landes beruht auf Toleranz und Diversität. Deswegen gibt es auch keine Partei in Kanada, die gegen Zuwanderung Stimmung macht.

Was macht Kanada in Sachen Zuwanderung besser als europäische Länder?

Ich möchte niemand anderen kritisieren, ich beschränke mich lieber darauf zu zeigen, wie wir Kanadier Migration handhaben.

Lässt sich die Einstellung gegenüber Migranten auch auf die Frankophonen zurückführen, auf die seit langem bestehende sprachliche, religiöse und kulturelle Vielfalt des Landes?

Ja. Egal, ob als französische oder englische Kolonie, die Frankophonen behielten ihre Sprache und den Katholizismus. Es ist in der Geschichte selten, dass die neue Macht nicht ihre Sprache durchsetzt. Und es funktioniert seit Jahrhunderten.

Andererseits gab es immer wieder Sezessionsbestrebungen in Québec. Bei der dortigen Volksabstimmung 1995 erreichte das Lager, das nicht über eine Unabhängigkeit von der Zentralregierung verhandeln wollte, nur eine hauchdünne Mehrheit von 50,58 Prozent.

Es wird immer Personen geben, die die Geschichte neu schreiben möchten - so wie es immer einige geben wird, die sich in Österreich nach der alten Größe der Monarchie sehnen. In Kanada verbargen die Separatisten von der Parti Québécois ihre wahren Ziele, nannten sich etwa "Souveränisten". Sonst hätten sie lediglich 20 bis 22 Prozent der Bürger hinter sich gehabt.

Québec hat sich in den vergangenen 50 Jahren stark gewandelt: 1969, als Französisch mit Englisch gleichberechtigte Amtssprache in Kanada wurde, sprachen nur wenige innerhalb der frankophonen Gebiete Englisch, umgekehrt wenige Französisch. Das hat sich auf beiden Seiten wesentlich geändert, zum Beispiel lernt jährlich eine halbe Million englischsprachiger Kinder zusätzlich Französisch.

Wie die Frankophonen in Québec sind auch die Russischsprachigen auf der Krim-Halbinsel deutlich in der Mehrheit. Die beiden Territorien sind nicht vergleichbar, aber, aus kanadischer Perspektive: Warum waren die Bewohner der Krim so begeistert davon, russische Bürger zu werden?

Weil Sie zum Großteil ethnische Russen sind und das Land erst 1954 an die Ukraine angegliedert wurde. Vermutlich hegten sie über all die Jahre weiter den Wunsch, Teil Russlands zu werden.

Andere Faktoren als die ethnische Zugehörigkeit zählen Ihrer Meinung nach weniger, beispielsweise demokratische Prinzipien?

In den früheren Sowjetrepubliken gibt es erst seit rund 20 Jahren freie Wahlen. Die Leute sind an Demokratie noch nicht gewöhnt wie Österreicher oder Kanadier.

Wie beurteilen Sie den Konflikt in der Ukraine und mit Russland?

Ich denke nicht, dass es zu einem Krieg kommen wird. Die nunmehrige Abspaltung der Krim wird wohl nicht rückgängig gemacht werden können. Russland wird seine Meinung nicht ändern, und der Westen hat nicht die Mittel in der Hand, um Putin zum Einlenken zu zwingen. Also wird die jetzige territoriale Situation wohl lange Bestand haben.

Denken Sie, dass Russland auch den Osten und Süden der Ukraine eingliedern möchte?

Ich vermute, Wladimir Putin gibt sich fürs Erste mit der Krim-Halbinsel zufrieden - sofern nicht etwas Gravierendes in der Ostukraine passiert. Man darf aber nicht aus den Augen verlieren, dass diese zur UdSSR gehörte - die vor nicht einmal 25 Jahren unterging.

Die Phrase vom "Neuen Kalten Krieg" geistert bereits durch die Medien. Sind wir tatsächlich schon so weit?

Solange er nur "kalt" ist, soll es mir recht sein.

Die Krim-Krise zeigt auch die Defizite in der europäischen Energiepolitik auf.

Kanada und die Vereinigten Staaten sind hier in einer vergleichsweise komfortablen Position: Wir haben keine intensiven Handelsbeziehungen mit Russland, noch sind wir von dessen Öl und Gas abhängig. Kanada exportiert diese Rohstoffe vor allem in die Vereinigten Staaten, Europa ist kein Markt.

Zwar ist Kanada drittgrößter Erdgasproduzent der Welt und verfügt über enorme Mengen an Schiefergas. Umstritten sind aber in Nordamerika weitverbreitete Methoden wie Fracking oder der Ölsandabbau. Wie kann das Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und umweltpolitischen Notwendigkeiten gewahrt werden?

Das ist ein lokales Problem (Ölsande werden vor allem in der westkanadischen Provinz Alberta abgebaut, Anm.), das vernünftig gehandhabt wird. Die Firmen stehen unter großem Druck, die Umweltverschmutzung einzudämmen. Fracking hat sich in den Vereinigten Staaten zu einem riesigen Wirtschaftszweig entwickelt. Die USA sind damit wesentlich weniger von Saudi-Arabien und Venezuela abhängig.

Kanada stieg 2011 aus dem Kyoto-Protokoll aus. Zu Recht?

Nein. Das Klimaschutzabkommen wurde in meiner Zeit als Premier ratifiziert. Ich bin überzeugt, wir hätten die Emissionsvorgaben schaffen können. Aber die Öl- und Gasindustrie hatte mehr Einfluss auf die Konservative Partei als ich.