Für China stellt sich die Frage nach strategischen Lehren aus Russlands Einmarsch in die Ukraine.
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Bei den meisten westlichen Medienkonsumenten war das Drehbuch für eine Konfrontation auf ukrainischem Territorium lange vor dem aktuellen Krieg fix in den Köpfen installiert: Ein massiver Cyberangriff legt die ukrainische Infrastruktur lahm und am Morgen danach weht die russische Fahne über dem Mariyinsky-Palast in Kiew. Der überlebensgroße Stratege Wladimir Putin würde dann mit ausgebufften Methoden der Informationskriegsführung einfach alles auf irgendwelche Nazis schieben. Der Westen würde danach moralisch-entrüstet sein, aber letztlich nur zahnlose Sanktionen verhängen. Ende.
Genau so hat man sich das auch im Zhongnanhai, im Regierungspalast in Peking, vorgestellt. Ob diese Annahme durch nachrichtendienstliche Fehler induziert wurden oder ob man es in den chinesischen Führungszirkeln - den eigenen militärisch-strategischen Prinzipien folgend - schlicht für unmöglich hielt, dass Russlands Armeeführung es ernsthaft erwägen könnte, die Ukraine auf breiter Front mit fast 200.000 Mann zu überfallen, ist unklar. Da man eine westliche Parteinahme mit möglichen Konsequenzen für die Volksrepublik niemals in Betracht gezogen hat, hatte man in Peking mit einem Schulterschluss mit Russland zunächst kein Problem. Selbst die offizielle russische Formulierung für die Invasion in der Ukraine als "militärische Spezialoperation" (tebie zhanshi xingdong) wurde übernommen. Und Bücher über Putin, der in der chinesischen Populärkultur den Beinamen "Der große Eroberer" trägt, waren kurzfristig sogar die meistgesuchten Artikel auf der E-Commerce-Plattform Dangdang.
Der Ukraine als Xis Problem
Die russische Invasion in der Ukraine knapp zwei Wochen nachdem Staatspräsident Xi Jinping Russland feierlich zum "Grenzenlosen Partner" erklärt hatte, ist aber mehr als eine diplomatisch-kommunikative Panne für die Führung in Peking. Aktuell hat Xi nur die Wahl, ob er entweder als naiv gelten möchte oder er einräumt, die Lage so falsch eingeschätzt zu haben, dass er Putin tatsächlich grünes Licht signalisiert hat. Beides ist für seine Pläne, auch nach dem 20. Parteitag im Herbst dieses Jahres mindestens eine weitere Periode im Amt zu bleiben, nicht zuträglich. Bereits seine Abkehr von Deng Xiaopings Gebot der "diplomatischen Zurückhaltung" und die Umgestaltung der außenpolitischen Entscheidungsfindung nach einem streng hierarchischen Top-Down-Prinzip (dingcen sheji) im Herbst 2013 war in unterschiedlichen Denkfabriken der chinesischen Sicherheitspolitik alles andere als unumstritten. Sollte die Volksrepublik unter seiner Führung nun in die diplomatische Isolation rutschen, wäre vom Nimbus des über den Dingen stehenden großen Führers, den Xi schon seit Jahren immer weitertragen zu versucht, am nächsten Parteitag aber wohl nicht mehr viel über.
Eine Blaupause für Taiwan?
Der russische Einmarsch in der Ukraine wird in den chinesischen Führungszirkeln aber nicht nur wegen der kurzfristig drohenden diplomatischen Verwerfungen genau beobachtet. Dass ein hochgerüstetes und zahlenmäßig weit überlegenes Heer in einem von Fehleinschätzungen und vielen gravierenden Problemen begleiteten Feldzug nach einem Monat weit davon weg ist, seine Kriegsziele zu erreichen, wird wohl auch unweigerlich die Planspiele für die von China in den Raum gestellte Invasion in Taiwan beeinflussen.
Die Spekulation über den Zeitpunkt eines Einmarsches ist bereits seit Xis direkter Verknüpfung dieses Vorhabens mit der "Nationalen Wiederauferstehung" und der Erfüllung des "Chinesischen Traums" bis zum 2049 sehr viel intensiver geworden. Allerdings bestehen nach wie vor unterschiedliche Zeitpläne: Für einige Analysten wird die Invasion bis 2035 vollzogen sein, für dieses Jahr hat Xi am 19. Parteitag 2017 auch eine Zwischenetappe beim Marsch in Richtung 2049 eingezogen. Andere folgen der Ansicht von Admiral Philip Davidson, bis 2021 Kommandant der US-Marine im Indo-Pazifik, der das hundertste Jubiläum der Gründung der Volksbefreiungsarmee 2027 für am wahrscheinlichsten hält. Der Verteidigungsminister Taiwans, Chiu Kuo-cheng, hält China jedenfalls ab 2025 für militärisch dazu in der Lage. Die diskutierten Zeitpläne scheinen für die Frage, in welcher Weise der Ukraineüberfall als Blaupause für Chinas Ambitionen in der Straße von Taiwan dienen könnte, aber ohnedies als sekundär. Denn eine militärische Invasion in Taiwan wäre nur zu einem viel höheren Preis zu haben. China hat zwar seit 2017 seine militärischen Fähigkeiten stark ausgebaut, allerdings fehlen kampferfahrene Piloten, die Marine hat erst vor kurzem Operationsfähigkeit unter Einsatzbedingungen erlangt und laut dem US Naval War Colleg finden noch nicht einmal gemeinsame Manöver zwischen den unterschiedlichen Waffengattungen statt, die für eine Invasion notwendig wären. Für China würde außerdem viel mehr auf dem Spiel stehen als gegenwärtig für Russland: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine gescheiterte Invasion zum Ende des KP-Regimes führen würde, ist jedenfalls hoch.
Eine Frage der Kosten
Im Zhongnanhai ist die Diskrepanz zwischen den russischen Großmacht-Ambitionen und den tatsächlichen Fähigkeiten auch schon seit vielen Jahren bekannt. Dennoch gilt das Land seit Mitte der 1990er Jahre als wichtiger Partner im Wettbewerb um globalen Einfluss. Eine starke und vor allem nachhaltige Russland-China-Achse, die von manchen, auch österreichischen Analysten, mit Blick auf die Ukraine skizziert wird, existiert aber nicht. Russland ist aus der Sicht Pekings zwar ein wichtiger Energielieferant, aber gleichzeitig ein Land mit einer nicht zukunftsfähigen Wirtschaft, das hochentwickelte Waffensysteme an die asiatischen Erzrivalen Indien und Vietnam verkauft und Xis neues Weltordnungsmodell der "Schicksalsgemeinschaft" ablehnt. Eine eindeutige Solidarisierung mit Moskau - jenseits der Medien - kommt daher nicht in Frage.
So hat die von China dominierte Asia Infrastructure Investment Bank (AIIB) in Folge der westlichen Sanktionen die Kreditvergabe ausgesetzt und China hat die Lieferung von Ersatzteilen für zivile Flugzeuge bisher verweigert.
Wichtige Russland-Experten wie Feng Yujung und Ji Zhiye, beide vom einflussreichsten außenpolitischen Thinktank, dem China Institute of Contemporary International Relations (CICIR), halten Russland für eine destruktive Macht. Das heißt, es geht in der Außenpolitikplanung in Peking nicht um eine "neue Achse", sondern darum, ob der mögliche Nutzen einer "anti-westlichen Solidarisierung" die dadurch entstehenden Risiken und Kosten aufwiegen. Für den Fall eines Scheiterns von Putin in der Ukraine hält der vormalige Herausgeber der KP-Parteizeitung "Global Times", Hu Xijin, sogar eine "Farbrevolution" in Russland für möglich.
Enttäuschende Militärtechnik
Der einzige Bereich, in dem Russland von China bisher bewundert wurde, ist die vermeintliche Fähigkeit zur hybriden Kriegsführung. Während die Volksrepublik hier weit zurückliegt, galt Russland in der Vergangenheit als Vorbild: von der Implementierung einer Nationalen Strategie - der "Gerasimow-Doktrin" - bis hin zur Fähigkeit, mit einer Kombination aus diplomatischer Täuschung, Desinformation und militärischer Gewalt geopolitische Ziele zu erreichen.
Eine Ernüchterung gab es in China durch den Ukraine-Krieg aber nicht nur hinsichtlich der russischen Strategie, sondern auch bei der russischen Kriegstechnik, die auch in den meisten chinesischen Waffensystemen - von der Luftabwehr bis hin zur Marine - steckt und sich in den letzten Wochen den westlichen Systemen als deutlich unterlegen erwiesen hat. So hat der Kampfhubschrauber vom Typ "Kamov", von dem China 36 Stück auf seiner Bestellliste hat, in der Ukraine bisher nicht nur schwere Verluste erlitten. Genauso wie bei einigen Flugzeugtypen und radargesteuerten Flugabwehrsysteme ist seine Technologie infolge des Ukraine-Einsatzes nun für westliche Militärexperten zugänglich geworden. Eine weitere Emanzipation von russischer Militärtechnik dürfte für China damit nun eher früher als später auf dem Programm stehen.