Zum Hauptinhalt springen

Keine Mörder, sondern Kranke

Von Mathias Ziegler

Wissen

Pro Tag sehen laut Statistik Austria vier Österreicher im Tod den einzigen Ausweg. Im Jahr 2003 nahmen sich 1.456 Österreicher das Leben. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum starben 931 Menschen im Straßenverkehr. Weltweit stirbt alle 40 Sekunden jemand durch eigene Hand. Viele dieser Suizide wären durch geeignete Vorbeugemaßnahmen vermeidbar, sind die Experten der Plattform "Sag ja zum Leben. Stopp Suizid!" überzeugt. Denn in 90 Prozent der Fälle ist der Freitod der finale Akt einer depressiven Erkrankung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Depressionen sind die häufigste Ursache für Suizid", erklärt Siegfried Kasper, Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Medizinischen Universität Wien. "Sie gehören heute zu den häufigsten Krankheiten." Weltweit sterben dreimal mehr Menschen durch Suizid als an Aids. Unbehandelt führe die Depression bei jedem zehnten Betroffenen zum Selbstmord.

Der Begriff "Selbstmord" bereitet Univ.-Prof. Christian Simhandl, Primar im Krankenhaus Neunkirchen (NÖ), allerdings Unbehagen: "Da geht es nicht um Mörder, sondern um kranke Menschen", stellt der Mediziner klar. Das Bewusstsein dafür will die Plattform "Sag Ja zum Leben. Stopp Suizid!" unter anderem durch österreichweite Veranstaltungen und Fortbildungsinitiativen schärfen. "Der Suizid ist eine Erkrankung wie der Diabetes. Man muss das wie eine Stoffwechselkrankheit sehen", meint Kasper.

Über Suizid reden ist

nicht leicht - aber es hilft

Erkrankte warten allerdings durschschnittlich ein Jahr, ehe sie sich einem Arzt anvertrauen. Ebenso groß sind aber auch die Hemmungen bei Ärzten und Therapeuten, Patienten zu eventuellen suizidalen Neigungen zu befragen, weiß Simhandl. "Dabei ist die Frage nach derartigen Gedanken bestimmt nicht Auslöser für den Wunsch nach dem Freitod." Im Gegenteil könne gerade das Gespräch viele Leben retten, betont der Experte. "Denn hat man die Depression erst einmal als solche erkannt, ist sie meist gut behandelbar", sagt Simhandl. Moderne Medikamente, die in erster Linie die Produktion von Serotonin (Glückshormons) im Gehirn fördern, zeichnen sich durch rasche Wirkung aus. "Vor allem", fügt der Mediziner hinzu, "kann man sich mit den neuen Antidepressiva nicht mittels Überdosis umbringen".

Neben der Medikation müssen den Betroffenen aber auch immer wieder (Lebens)Ziele und Wertinhalte vor Augen geführt werden. "Das ist umso leichter, je mehr Vertrauen ein gefährdeter Mensch in den Helfer setzt", sagt Stefan Rudas, Chefarzt für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Unterstützung durch die Familie ist daher sehr wichtig.

Doch gerade gegenüber den nächsten Angehörigen schämen sich viele über ihre Probleme zu sprechen. "Dabei ist es keine Schande, über Suizidgedanken zu reden", sagt Rudas, "beinahe jeder Mensch hat sich im Laufe seines Lebens damit beschäftigt". Wer offen über Freitod spricht oder ihn gar androht, sollte auf jeden Fall ernst genommen werden, warnt Rudas. "Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass Patienten, die ihren Suizid ankündigen, ihn dann nicht vollstrecken." Auch Patienten, die bereits einmal Suizid versucht haben, stellen laut Rudas eine besondere Risikogruppe dar: "Daher wird in Wien nach einem Versuch sofort therapeutische Hilfe angeboten, was die Suizidzahl gesenkt hat."

Besonders gefährdet:

Ältere, einsame Männer

Früherkennung sei eben auch bei der Depression einer der wichtigsten Faktoren in der Bekämpfung, sagt Rudas. "Besonders anfällig sind ältere Menschen, hier vor allem Männer, die ihre Partnerin verloren haben." Auf Risikofaktoren wie Krankheit, Schmerzen oder Trauer müsse besonders geachtet werden. In der Tat ist der Selbstmord männlich. Im Jahr 2003 nahmen sich 1.068 Männer - ein großer Teil über 65 - das Leben, während "nur" 388 Frauen den Freitod starben. "Tatsächlich machen Frauen mehr Suizidversuche, aber bei Männern gelingt es öfter", erklärt Univ.-Prof. Michael Kunze vom Institut für Sozialmedizin der Medizinischen Universität Wien. Die männliche Depression führe eher zu Aggressivität, während sich Frauen mehr zurückziehen würden. "Der typische Raser auf der Autobahn ist nicht selten in Wirklichkeit depressiv."