Russland bringt die Idee einer ukrainischen Neutralität nach rot-weiß-rotem Vorbild ins Spiel. Aber wie realistisch ist das?
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Im Moment läuft der mittlerweile dreiwöchige Krieg Russlands gegen die Ukraine noch auf Hochtouren. Die Angriffe russischer Truppen gegen ukrainische Städte und Wohnviertel haben tausende Tote unter Soldaten und Zivilisten gefordert, große Zerstörungen verursacht und Millionen Frauen und Kinder in die Flucht Richtung Westen getrieben. Ein Ende des Blutvergießens war lange nicht in Sicht. Der Kreml hatte betont, die Ziele seiner "militärischen Spezialoperation" im Nachbarland auf jeden Fall erreichen zu wollen. Jeder, der Russland bei seinen Handlungen aufhalten würde, so Kreml-Chef Wladimir Putin Richtung Westen, werde eine Antwort erhalten, wie sie in seiner Geschichte bisher nicht vorgekommen sei. Dass Putin auch noch Russlands strategische Abschreckungswaffen in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen ließ, löste im Westen Sorgen vor einem möglichen russischen Atomschlag aus.
Mittlerweile ist solche Kraftmeierei in den Hintergrund getreten. Hauptgrund dafür ist die Ernüchterung, die Russland in der Ukraine erlebt. Der Widerstand der ukrainischen Truppen ist stark. Und die russische Armee erweist sich überraschend fehleranfällig. Waren die ersten Gespräche, die man auf unterer Ebene geführt hat, noch eher ein fruchtloses Abtasten, so wird zwischen Moskau und Kiew nun offenbar ernsthaft über mögliche Ausstiegsszenarien aus dem von Russland herbeigeführten Krieg diskutiert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj äußerte sich vorsichtig optimistisch und erklärte in einer Videobotschaft, die russischen Verhandlungspositionen würden sich mittlerweile realistischer anhören. Bis zu einer Lösung werde es aber noch dauern: "Wir alle wollen so schnell wie möglich Frieden und Sieg", sagte der 44-Jährige. Aber dafür brauche es noch "Mühe und Geduld" - und weitere Treffen.
Hoffnung auf Kompromiss
Seitens Russlands schlug Außenminister Sergej Lawrow versöhnlichere Töne an. Die Gespräche seien "nicht einfach", es bestehe aber Hoffnung auf einen Kompromiss. Wie der aussehen könnte, blieb naturgemäß noch offen. Lawrow zufolge wird bei den Treffen aber ernsthaft über einen neutralen Status der Ukraine diskutiert. Auch das Präsidialamt in Moskau sprach über eine ukrainische Neutralität nach dem Vorbild Österreichs oder Schwedens als möglichem Kompromiss.
Eine "österreichische Lösung" für die Ukraine ist zwar auch hierzulande im Vorfeld des Ukraine-Krieges oft diskutiert worden. Die Ukraine befindet sich allerdings in einer gänzlich anderen Lage als Österreich 1955: Für Österreich war die im Neutralitätsgesetz "aus freien Stücken" festgeschriebene Bündnisfreiheit nach Schweizer Vorbild vor allem ein Vehikel, um die ersehnte volle Souveränität und den Abzug der Besatzungsmächte zu erreichen - bei gleichzeitig fester Verankerung im Westen.
"Absolute Sicherheitsgarantien"
Letzteres wäre für die attackierte Ukraine noch viel wichtiger - die Einflussmöglichkeiten Russlands, dessen Präsident Wladimir Putin der Ukraine die Eigenstaatlichkeit abspricht, sind im Nachbarland um ein Vielfaches größer.
Kiew zeigte sich von dem russischen Vorschlag auch wenig angetan: Selenskyjs Berater Mychailo Podoljak wies darauf hin, dass sich die Ukraine gerade "in einem direkten Kriegszustand mit Russland" befindet. Er lehnte das schwedische und österreichische Modell ab und forderte "absolute Sicherheitsgarantien".
Ein Nato-Beitritt muss damit nicht gemeint sein: Selenskyj hatte bereits am Dienstag davon gesprochen, dass sein Land "anerkennen" müsse, dem westlichen Militärbündnis nicht beitreten zu können. "Jahrelang haben wir von offenen Türen gehört, aber jetzt haben wir auch gehört, dass wir dort nicht eintreten dürfen, und das müssen wir einsehen", sagte der ukrainische Präsident. "Ich bin froh, dass unser Volk beginnt, das zu verstehen, auf sich selbst zu zählen und auf unsere Partner, die uns helfen."
Das Zurückrudern Selenskyjs ist nicht so überraschend, wie es scheint: Schon vor Kriegsbeginn hatte der ehemalige Schauspieler vor der Nato mehrmals gefordert, dass diese klar aussprechen solle, ob die Ukraine überhaupt eine Chance auf einen Beitritt hat. Ein Nein aus Brüssel hätte Selenskyj geholfen, einen möglichen Verzicht auf einen ukrainischen Nato-Beitritt, der (nicht nur) von den Nationalisten vehement gefordert wurde, innenpolitisch zu überleben - nach dem Motto: Ich wollte ja, aber es geht eben nicht. Den theoretisch möglichen Kompromiss mit Russland hat Putin mit seinem Angriff auf die Ukraine freilich zunichtegemacht.
Jetzt, inmitten des Krieges, ist das ukrainische Vertrauen in einseitige Sicherheitsgarantien des Kremls naturgemäß noch geringer als zuvor. Podoljak sprach von keinem österreichischen oder schwedischen, sondern von einem "ukrainischen Modell", das nötig sei, um die Sicherheit des Landes zu garantieren: ein Modell, in dem sich die Unterzeichner verpflichten, im Fall einer Aggression aufseiten der Ukraine zu intervenieren.
Das würde aber dem ähneln, was die Ukraine durch einen Nato-Beitritt bekäme - es wäre de facto eine Beistandsgarantie durch westliche, also Nato-Staaten. Ob Moskau ein solches Szenario akzeptiert, ist äußerst fraglich - zumal sich Russland trotz aller Verhandlungen weiter unnachgiebig zeigt: So versucht man derzeit im eroberten Süden der Ukraine, etwa in Cherson, eine neue Volksrepublik ins Leben zu rufen.
"Wollen Land nicht besetzen"
Und auch Russlands Präsident Wladimir Putin hat seine aggressive Rhetorik zumindest gegenüber dem Westen nicht abgeschwächt: Er warf diesem in einer Rede vor, einen "wirtschaftlichen Blitzkrieg" gegen Russland zu führen, der zu mehr Arbeitslosen und steigender Inflation führen werde. Der Westen wolle Russland "zerstückeln" und "Unruhen" hervorrufen. Und auch der übliche NS-Vergleich durfte nicht fehlen: Die Handlungen des Westens ähnelten den antisemitischen Pogromen in Deutschland der 1930er Jahre.
Gegenüber Kiew betonte aber auch Putin Gesprächsbereitschaft über einen möglichen neutralen Status - und wusch seine Hände in Unschuld: "Die Anwesenheit russischer Kräfte in der Nähe Kiews und anderer Städte in der Ukraine hat nichts damit zu tun, dass wir das Land besetzen wollen. Dieses Ziel haben wir nicht", erklärte der Staatschef in seiner Rede. Man werde allerdings nicht zulassen, dass die Ukraine "Sprungbrett für aggressive Handlungen gegenüber Russland" werde.