Zum Hauptinhalt springen

Keine Revolution mehr in Kiew

Von Gerhard Lechner

Europaarchiv

Junge suchen im Internet nach Arbeit oder wandern aus. | Timoschenkos Schicksal bewegt die Menschen kaum.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Ternopil. Ist das wirklich ein Land in der Krise? In der westukrainischen 250.000 Einwohner-Stadt Ternopil regiert, so scheint es wenigstens, im Sommer 2011 ausgelassene Fröhlichkeit: Kinder kurven auf Go-Kart-artigen Tretautos über den zentralen Platz vor dem Stadttheater, Hochzeitsgesellschaften nutzen den schönen August dafür, den Bund fürs Leben einzugehen. Dass das monatliche Durchschnittseinkommen in dem Gebiet bei rund 120 Euro liegt, merkt man allenfalls am desolaten Zustand der Straßen. Die von Alleen und Parks durchzogene, im einstmals zur K.u.K.-Monarchie gehörenden Galizien gelegene Hauptstadt eines Verwaltungsbezirks platzt vor Lebensfreude.

Doch die Ukrainer haben eine lange Erfahrung darin, mit und trotz der Krise zu leben. "Bei uns ist immer Krise", heißt es. Um durchzukommen, suchen vor allem Junge nach kreativen Verdienstmöglichkeiten. Besonders die oft besser ausgebildeten Frauen nutzen dabei das Internet: etwa die 30-jährige Svitlana, die lange in Dresden gelebt hat, perfekt deutsch spricht und sich mit Übersetzungen ein Zubrot verdient. Oder Marijana: Die 24-jährige sitzt jeden Tag noch bis spät in die Nacht vorm Computer. Sie werkt zu US-Arbeitszeiten für eine amerikanische Softwarefirma. Die Arbeit bringt immerhin rund 350 Dollar im Monat ein, nächstes Jahr sollen es schon 500 sein. Mit ihrem Mann Serhij, der von Friseur über Automechaniker und Installateur schon einige Berufe ausgeübt hat, verkauft sie dazu noch kunstvoll in Handarbeit angefertigte Glückwunschkarten. Serhij konnte bereits sein altes Sowjet-Auto gegen einen Honda tauschen.

Schengen-Visa begehrt

Davon kann Stepan derzeit nur träumen: Der intelligente junge Mann ist Programmierer. Seit einigen Monaten schon ist er arbeitslos. "Es gibt hier einfach keine Arbeit für mich. So geht es vielen. Sehr viele wandern aus, wenigstens auf Zeit, und schicken dann Geld an ihre Familien nach Hause", sagt Stepan. Tatsächlich hängen an jeder Ecke der Stadt, im Zentrum oder außerhalb, Zettel mit Telefonnummern. "Visa und Arbeit" steht da geschrieben. Und: "Ausreise". Zielländer gibt es genug: England, Irland, Deutschland, Italien, Holland, aber auch Israel. Sogar der Irak kommt offenbar in Frage. Immer wieder findet man Zettel mit der Aufschrift "Schengen-Visa", darunter eine Telefonnummer und den Hinweis: "Unsere niedrigen Preise werden Sie freuen."

Stepan, dessen Freundin Radiojournalistin ist und über den zunehmend repressiven Kurs von Präsident Wiktor Janukowitsch stöhnt, will dennoch nicht weg. Er hofft auf Aufträge übers Internet. In die Politik setzt er keine Hoffnung: Die Enttäuschung über Ex-Präsident Wiktor Juschtschenko, der gerade hier, im Westen des Landes, zur Zeit der Orangen Revolution als Hoffnungsträger galt, ist immer noch mit Händen zu greifen. "Ja, natürlich habe ich auch damals demonstriert. Aber das ist doch alles eine Farce", beginnt Stepan sein Lamento über die ukrainische Politik. "Wir wählen seit Jahren immer nur das scheinbar geringere Übel. Als Ex-Präsident Leonid Kutschma gegen den Kommunisten Simonenko angetreten ist, haben alle hier gesagt: Na gut, dann noch eher Kutschma. Und auch die Stimmen für Juschtschenko waren eigentlich Stimmen gegen Janukowitsch. Als dann die orangen Kräfte nichts vorangebracht haben, haben sich wohl viele gedacht: Na gut, dann Janukowitsch. Schlechter kann es ja nicht mehr werden."

Aber ist nicht doch wenigstens eine Stabilisierung eingetreten? Immerhin gibt es nun statt des orangen Chaos eine arbeitende Regierung. "Arbeit? Ach wo. Janukowitsch bringt halt überall seine Leute aus dem ostukrainischen Donbass, aus Donezk, unter. Unserem ehemaligen Gouverneur soll er, als er ihn gefeuert hat, sogar selbst einen Fußtritt verpasst haben, sodass der im Krankenhaus landete. Janukowitschs Leuten im Osten gefällt so etwas. Da heißt’s dann: Das ist ein ganzer Mann!", lässt Stepan einer hier weit verbreiteten Meinung über die russisch sprechenden Ostukrainer freien Lauf. Trotz dieser Geringschätzung der "Moskali", der Moskowiter, verdingen sich aber auch viele Westukrainer in Russland.

"Bin gegen alle"

Dass Anhänger Julia Timoschenkos mit einem Info-Zelt vor dem Stadtparlament gegen die Inhaftierung der Oppositionschefin protestieren, kratzt Stepan wie die meisten in der ehemaligen Timoschenko-Hochburg Ternopil, das mittlerweile von einer radikalen Nationalistenpartei regiert wird, nicht besonders. Er hat bei der letzten Wahl bereits "gegen alle" angekreuzt, eine Möglichkeit des Protests, die den Ukrainern am Stimmzettel offensteht.

Besonders rege ist das Treiben vor dem Zelt auch nicht, und es sieht nicht danach aus, als würden sich nennenswerte Gruppen jenseits von Timoschenkos Parteiorganisation und der in Kiew üblichen bezahlten Demonstranten für politischen Protest motivieren lassen. Der Prozess gegen die Politikerin mit dem Haarkranz wird als eine Art inneroligarchische Fehde wahrgenommen, die keinen Einsatz lohnt. Eher herrscht Resignation vor: "Wenn es mit rechten Dingen zuginge, gehörten die doch auch eingesperrt", meint ein Passant über die aktuellen Eliten aus Donezk. "Und Juschtschenko auch!", sekundiert ein anderer.

Witze als Ventil

Zumindest der politische Witz blüht in dieser "Die da oben"-Stimmung. "Janukowitsch wird gefragt, Wiktor Fjodorowitsch, kannst Du auch Präsident von Russland und der Ukraine werden?", beginnt Mychailo zu erzählen. Der etwas behäbige Präsident kramt den Taschenrechner hervor, rechnet nach: Ja, doch. "Und auch Präsident von Amerika und Europa dazu?" Wieder tritt der Taschenrechner in Aktion, wieder die Antwort: Doch, ja, geht sich aus. "Und kannst Du auch Präsident der ganzen Welt werden?" Da muss Janukowitsch nach längerer Kalkulation verneinen: "Nein, so viele Donezker habe ich nicht"- um die dann fälligen Posten zu verteilen.