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Keine rosa Gehwege

Von Cathren Landsgesell

Politik

Die Stadt hat der Frauenbewegung sehr viel zu verdanken. Warum ist Gendermainstreaming trotzdem so verpönt?


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Wien. Als die schwedische Hauptstadt Stockholm im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit im November zuerst wichtige Fußwege, Bushaltestellen und Radwege vom Schnee befreien ließ, bevor sie die Straßen für den Autoverkehr freimachte, löste sie europaweit bei Mainstream-Medien ebenso wie am rechten Rand denselben spöttischen Reflex aus: "Genderwahn in Stockholm" tönte es und "Chaos", "nichts funktioniert!" Eva Kail, Planerin im Geschäftsbereich Bauten und Technik der Stadt Wien, kennt diese Reflexe nur zu gut. Allerdings aus früheren Zeiten.

Eine gendergerechte Stadtplanung ist nämlich inzwischen weitestgehend normal. Die Stadt Wien hat in dem Bereich bereits seit den 1990er Jahren eine Vorreiterrolle für viele Städte in Europa, ja sogar international, eingenommen und gilt immer noch weltweit als Vorbild. Was in Wien zuerst frauengerechtes Planen hieß, ist heute als "Gendermainstreaming" in vielen europäischen Städten in allen wichtigen planerischen Prozessen verankert. Zum Nutzen aller. Gendermainstreaming bedeutet nämlich, Bedacht zu nehmen auf unterschiedliche Bedürfnisse. Von Männern und Frauen, Alten und Jungen, unterschiedlichen Kulturen. Dass geschlechtersensible Maßnahmen aber offenbar immer noch Häme hervorrufen, scheint mit ihren Ursprüngen in der feministischen Architektur und Stadtplanung zu tun zu haben.

Ein Blick in die Geschichte: Eva Kail bahnte sich nach ihrem Studium an der TU Wien Ende der 1980er Jahre ihren Weg in die Wiener Stadtverwaltung. Dort initiierte sie gemeinsam mit anderen Frauen - Architektinnen und Planerinnen - was man als feministische Wende in der Stadtplanung bezeichnen könnte. Weil Eva Kail und ihre Planungskolleginnen erstmals thematisierten, dass Frauen und Männer andere Bedürfnisse haben und den öffentlichen Raum anders nutzen, mussten sie sich spöttisch fragen lassen, ob sie nicht auch die Perspektiven von Kanarienvögeln oder Hunden in die Stadtplanung einbeziehen wollen. Das wollten sie nicht. Wohl aber eine lebenswertere Stadt.

Für dieses Ziel brachten die Frauen ganz neue Themen und Methoden in die Stadtplanung ein. Zuerst 1991 mit einer Foto-Ausstellung mit dem Titel "Wem gehört der Öffentliche Raum - Frauenalltag in der Stadt". Dort ging es um die Frage, welche Stadt sich Frauen wünschen. Ebenfalls 1991 wurde in Wien erstmals geschlechtsspezifisch ausgewertet, wie die täglichen Wege in Wien von wem zurückgelegt werden. Seit damals weiß man, dass Frauen häufiger zu Fuß gehen und wesentlich häufiger als Männer öffentliche Verkehrsmittel benutzen. 1992 wurde die "Leitstelle für Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen" gegründet. Eva Kail wurde ihre Leiterin. Plötzlich ging es in der Stadtplanung nicht mehr (nur) um breitere Straßen für die Autos und auch nicht um "rosa Gehwege", sondern um subjektive Sicherheit, um Kinderspielplätze, um die "Stadt der kurzen Wege". Eva Kail und ihre Kolleginnen waren Pionierinnen. In ihren eigenen Worten: "Wir waren wie die Trüffelschweine."

Hoppla, es gibt unterschiedliche Bedürfnisse

Doch was heißt geschlechtergerechtes oder gar frauengerechtes Planen tatsächlich? Spielt die Kategorie "Geschlecht" noch eine Rolle für Planerinnen und Architektinnen? "Man kann nicht im Vorhinein sagen, was geschlechtergerecht ist oder nicht", meint Heide Studer. "Wir analysieren bei jedem einzelnen Projekt, welche Gruppen einen Platz nutzen und welche Bedürfnisse sie haben. Neben Geschlecht spielen Kategorien wie Alter oder ethnische Hintergründe eine große Rolle." Heide Studer ist Planerin in Wien. Mit ihrem Planungsbüro Tilia hat sie unter anderem den Schuhmeierplatz in Wien-Ottakring neu gestaltet. Geschlechtergerecht heißt dort: Der schmale Gehsteig, die Hecken und der Rasen, den man nicht betreten durfte, sind verschwunden zugunsten eines offenen Platzes mit vielen verschiedenen Sitzmöglichkeiten. An diesem Ort sollen ältere Frauen sich ebenso wohlfühlen können wie Jugendliche. Bei der Gestaltung nahm Heide Studer auf verschiedene Bedürfnisse Rücksicht. Während es speziell, aber eben nicht nur, für Frauen wichtig ist, dass ein Ort keine dunklen Ecken hat, dass er sauber ist und Ordnung signalisiert, brauchen Jugendliche einen Platz wo sie sich treffen und laut sein können. Idealerweise geht ihr Lärm in einem anderen Lärm unter. So wie hier an der lauten Thaliastraße. "Der Platz ist jetzt ein Ort, der unterschiedlich genutzt werden kann, ohne dass es zu Konflikten kommt", erklärt Studer.

Zwar schuf erst der feministische Blick ein Bewusstsein dafür, dass es unterschiedliche Bedürfnisse gibt, aber Gendergerechtigkeit hat nur bedingt etwas mit Frauen zu tun. Das war schon in den Anfängen so. "Vor uns, Anfang der 1990er Jahre, hat niemand in der Mainstream-Planung über den öffentlichen Raum oder das zu Fußgehen oder Barrierefreiheit gesprochen", erinnert sich Eva Kail. Dieser Anspruch geht über spezifische Fraueninteressen hinaus. Barrierefreiheit kann schließlich nur allen nützen. "Die Arbeit, die in Wien geleistet wurde, kann man gar nicht hoch genug einschätzen", meint daher die Berliner Landschaftsarchitektin Barbara Willeke. "Wien war wegweisend für viele Städte." Woher kommt dann aber diese reflexartige Ablehnung?

Gendermainstreaming, darunter fällt das frauengerechte Bauen inzwischen, ist deshalb so verpönt, weil es feministisch gestartet ist, glaubt Willeke. Sie ist eine Spezialistin für die Gestaltung von Freiräumen, also von öffentlichen Parks, Spielstätten und Plätzen. Für Willeke spielt die Kategorie Geschlecht eine wichtige Rolle in ihrer Planung. Aber ebenso wenig wie Studer ist dies die einzige Brille, die sie aufsetzt. "Räume zu bauen ist wie Beziehungen zu ordnen", sagt Barbara Willeke. "Man kann die Probleme eines Ortes nur dann verstehen, wenn man präzise Kategorien hat." Diese Aufmerksamkeit für unterschiedliche Bedürfnisse ist in ihren Augen die wesentliche Errungenschaft der feministischen Stadtplanung: "In der Realität geht es in erster Linie um das Bewusstsein, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben - Buben andere als Mädchen, alte Menschen andere als Familien, Rollstuhlfahrende andere als Gehende, alte Männer andere als junge Familienväter und ganz allgemein auch Frauen andere als Männer. Bei dieser Betrachtungsweise geht es aber nicht darum, bestimmte Gruppen gesondert zu fördern, sondern es geht um Chancengleichheit für alle." Mit diesem Ansatz ist es Willeke bereits gelungen, den Letteplatz in Reinickendorf im Norden der Stadt von einem kriminellen Problemplatz, der von Frauen wie Männern gemieden wurde, zu einem belebten Ort zu machen, der von muslimischen Frauen genauso wie von Kindern, Jugendlichen, Anwohnern und Anwohnerinnen genutzt wird.

Seit 2010 sind die ursprünglichen "Frauenthemen" Teil des "Mainstreamings". Das heißt, Gendergerechtigkeit sollte heute bei allen Planungsentscheidungen - ob es nun um ein Wohnprojekt, einen Platz oder eine Straße geht - berücksichtigt werden. Ist die feministische Architektur und Stadtplanung damit am Ziel? "Ich fürchte, dass diese Art sozialer Nachhaltigkeit mehr und mehr in den Hintergrund tritt", sagt etwa Claudia König-Larch. Die Architektin hat unter anderem ein Nachfolgeprojekt der Frauen-Werk-Stadt I, einem der Pilotprojekte der frauengerechten Planung in Wien, realisiert. Die Frauen-Werk-Stadt II zielt auf die Inklusion vieler Generationen in einem Wohngebäude ab. Weitere Projekte von König-Larch sind die Bike City im zweiten Bezirk oder die Preyer’schen Höfe im 10. Bezirk, die ab Mitte 2017 gebaut werden. Sie erlebt, dass Bauträger zunehmend den Rotstift ansetzen, wenn es um Maßnahmen geht, die zunächst einmal teurer sind. Wie etwa großzügige, transparent gestaltete Erdgeschoßzonen, die offene Blickbeziehungen ermöglichen und damit mehr soziale Kontrolle. Auch Eva Kail sieht den Spielraum für eine geschlechtergerechte oder sozial nachhaltige Planung, die die Bedürfnisse Vieler berücksichtigt, tendenziell kleiner werden. "Niemand wird heute mehr sagen, wir wollen nichts für Ältere oder für Frauen machen", sagt sie. "Doch wenn ökonomische Interessen ins Spiel kommen, wird es schwierig." Investoren und Investorinnen ziehen aus Verwertungsgründen etwa einen langgezogenen Park einer kompakten Form vor, weil dies eine längere zum Park gerichtete Fassaden bedeutet. Die Nutzbarkeit des Parks tritt demgegenüber in den Hintergrund. Oder es wird die Anzahl der Stiegenhäuser, die für Kommunikation und Begegnung im Alltag wichtig sind, reduziert, um Baukosten zu senken. "Die Wiener Stadtplanung zieht deshalb vermehrt bei städtebaulichen Verfahren eine sogenannte Zielgruppenvertretung bei, die beratend die unterschiedlichen Bedarfslagen verschiedener NutzerInnengruppen aufzeigt", berichtet Kail.

Risikofaktor Kostendruck

"Das Problem mit dem Gendermainstreaming ist, dass häufig standardisierte Genderkriterien abgefragt werden, die dann berücksichtigt werden oder auch nicht", meint Studer zur heutigen Situation. Der präzise Blick und die analytische Herangehensweise werden damit verwischt, ist ihre Befürchtung.

Es sei von großer Wichtigkeit, dass die Erkenntnisse und die Vernetzung der feministischen Architektur und Stadtplanung wie sie die Stadt Wien initiierte, weitergeführt würden, sagt auch Barbara Willeke. "Gerade jetzt, wo die Städte schnell wachsen und beispielsweise immer mehr Geflüchtete zu uns kommen." Sie befürchtet, dass an die Stelle der sozialen Intelligenz technologische Überwachungslösungen treten könnten und Ausschluss und Abgrenzung an die Stelle von Inklusion. Aus frauenbewegter Sicht wäre das ein Rückschritt. In den Worten von Heide Studer: "Damit wären die Handlungsmöglichkeiten, das Recht auf die Stadt, für das wir den 1980er und 1990er Jahren so gekämpft haben, nicht mehr für alle gegeben."