Politanalyst Jarabik über den Fortgang der Reformen in der Ukraine und massive Verschiebungen in der Parteienlandschaft.
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"Wiener Zeitung": Die letzten Wochen in der Ukraine waren innenpolitisch turbulent. Zwei Parteien der regierenden Koalition haben diese überraschend verlassen und so den Weg für vorgezogene Parlamentswahlen freigemacht, Premier Arseni Jazenjuk wollte zurücktreten und beschuldigte das Parlament, wichtige wirtschaftliche Reformvorhaben zu sabotieren, die Fraktion der Kommunisten wurde aufgelöst. Wie handlungsfähig ist die Regierung?
Balazs Jarabik: Grundsätzlich ist sie handlungsfähig, die Frage ist nur, was sie macht. Wenn man sich ihre bisherige Bilanz ansieht, fällt diese sehr schwach aus. Gegenüber Russland tritt man zwar geschlossen auf. Gleichzeitig ist die ukrainische Politik aber sehr fragmentiert, wenn es um die weiteren innenpolitischen Reformen geht. Das ist sehr ungünstig, vor allem in der jetzigen Lage, in der die Ressourcen so knapp sind. Die Regierung hat viele Zahlungen stark gekürzt und Sozialleistungen reduziert, manche Beamte bekommen 200 bis 300 Dollar im Monat. Insgesamt gibt es sehr gefährliche soziale Spannungen im Land. Diese wurden wegen des militärischen Konflikts in der Ostukraine von Medien noch kaum aufgegriffen, weder im Land noch im Westen. Man macht sich viel mehr Gedanken über einen möglichen Krieg mit Russland. Aber das Land ist politisch und sozial gefährlich am Kochen.
Viele Beobachter erwarteten eine signifikante Zunahme der Spannungen, sobald die Gaspreise im Herbst weiter erhöht werden.
Die Situation wird in naher Zukunft sicher nicht einfacher werden - auch wegen der anstehenden vorgezogenen Parlamentswahlen Ende Oktober. Der Fokus wird also in nächster Zeit weniger darauf liegen, was das Land bräuchte, als vielmehr auf dem Wahlkampf und dem Schicksal der politischen Akteure und ihrer Parteien. Das wird auch die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) wieder verkomplizieren. Insgesamt verstärkt dies den sozialen Aufruhr.
Wir können in naher Zukunft keine Durchsetzung von strittigen, aber notwendigen Reformen erwarten?
Nun, die Ukrainer können auch überraschen. Nach dem Rücktrittsgesuch des Premiers Arseni Jazenjuk gab es eine Sondersitzung des Parlaments, das dies nicht akzeptierte. Das war ein gutes Zeichen, immerhin ist Jazenjuks Performance als Premier sehr positiv, er wird im eigenen Land wie international respektiert. Und trotz aller Differenzen - Schlüsselgesetze, etwa rund um die IWF-Gelder, konnten durchgebracht werden.
Auch in der ukrainischen Parteienlandschaft ist einiges in Bewegung.
In der Tat. Die Solidarität-Partei des Präsidenten Petro Poroschenko ist gerade im Entstehen, den letzten Umfragen zufolge ist sie schon mit knapp 16 Prozent zur populärsten Partei aufgestiegen - und das bei der allerersten Abfrage dieser Partei in den Umfragen. An zweiter Stelle liegt die Radikale Partei von Oleg Ljaschko (ultranationalistischer Parlamentsabgeordneter, Anm.), das ist ein klares Zeichen dafür, dass die Ukrainer momentan nach radikalen Positionen verlangen. Die Vaterlandspartei von Julia Timoschenko könnte sich aufspalten, viel wird auch davon abhängen, welche künftige Rolle sie sich selbst aussucht. Premier Jazenjuk, der der Vaterlandspartei angehört, könnte sich von ihr lösen. Das wird ein Sommer, in dem viele ukrainische Politiker ihre Position klären müssen.
Die ukrainischen Kommunisten könnten gänzlich wegfallen.
Nun, der Verlust des Fraktionsstatus der Kommunisten im Parlament wurde großteils fehlinterpretiert. Er erfolgte ja, weil es eine Änderung gab in der Anzahl der notwendigen Abgeordneten, um eine Fraktion zu bilden (die Kommunisten hatten nach der Änderung zu wenige Abgeordnete, Anm.). Ich sehe momentan keine Anzeichen einer gänzlichen Abschaffung der Kommunistischen Partei. Generell wäre es natürlich gescheiter für die Ukraine, sie eines natürlichen Todes sterben zu lassen. Aktuellen Umfragen zufolge liegt sie bei 3 Prozent. Ein Verbot wäre ein großer politischer Fehler.
Um die Partei der Regionen, der Partei des abgesetzten ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch, ist es auch still geworden.
Die Partei der Regionen ist erledigt. Viele fragen sich nun, wer ihre Stimmen einheimsen kann. Gerüchten zufolge - und das ist ein interessantes Phänomen - sollen viele Politiker im Osten des Landes in die Solidaritäts-Partei von Poroschenko wechseln wollen (Poroschenko war eines der Gründungsmitglieder der Partei der Regionen Ende der 1990er Jahre, Anm.). Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch möglich sein wird, eine pro-russische Partei aufzustellen. Meiner Meinung nach wird in der aktuellen Situation - abgesehen von den Separatisten - keine reguläre politische Kraft einen pro-russischen Standpunkt einnehmen. Der Einfluss Russlands und Putins ist auf ein absolutes Minimum gesunken. Es gibt keine russischen Verbündeten mehr in der ukrainischen Innenpolitik.
Einer der wichtigsten Gründe für die Revolution war der Wunsch der Menschen, die korrupte politische Elite loszuwerden. Wie weit kam man mit der Lustration?
Es gibt einen diesbezüglichen Gesetzesentwurf, aber ich glaube nicht, dass er beschlossen wird. Das Problem ist, dass es keine Debatte innerhalb der Gesellschaft über die Frage gibt, welche Art und welches Level an Lustration man will. Diejenigen, die die Lustration besonders fordern, haben die radikalsten Positionen. Ich bin mir nicht sicher, dass in einem vom Krieg zerrütteten Land eine weitangelegte Lustration, bei der man jeden, der mit Janukowitsch oder Russland verbandelt war, loswird, helfen würde. Darüber gibt es noch keinen gesellschaftlichen Konsensus. Ob ein Schnellschuss nun sinnvoll wäre, ist fraglich.
Balazs Jarabik, geboren 1972, ist Gastforscher beim US-Think Tank Carnegie Stiftung für Weltfrieden. Der Politanalyst ist spezialisiert auf die Ukraine und Osteuropa.