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Keine Scheu vor dem Tod

Von Lucia Kautek

Gastkommentare
Lucia Kautek istKinderärztin in Wien.

Wie es scheint, sind die Leichenwagen aus dem Stadtbild verschwunden, weil man den Bürgern nicht zumuten will, mit dem Tod konfrontiert zu werden.


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In seinem preisgekrönten Film "Atmen" behandelt Karl Markovics die Erfahrungen eines jungen zu rehabilitierenden Strafgefangenen in einem Beerdigungsunternehmen. Nach dem Kinobesuch habe ich mich gefragt: Wo sind eigentlich die Leichenwagen in der Stadt? Warum sieht man sie nicht? Wann und wo werden die Verstorbenen eigentlich transportiert? Diese Frage war mir vorher noch nie bewusst, und zu meiner großen Überraschung habe ich bei Recherchen die Antwort bekommen: Die Leichenwagen fahren eher nachts, damit man sie im Stadtbild nicht so wahrnimmt. Ich hoffe sehr, das war ein schlechter Witz. Aber mein Erstaunen bleibt, und ich frage mich ernsthaft, ob es sein kann, dass man uns Bürgern tatsächlich inmitten der Stadt den Anblick von Leichenwagen mit der Erinnerung an den Tod nicht zumuten will. Und das in einer Stadt, die den Tod gelegentlich melancholisch als etwas Erstrebenswertes besingt. Ich kann und will das nicht glauben.

Was erwartet man von uns Bürgern?

Glaubt man, wenn ich vor einem Supermarkt stehe und einen Leichenwagen sehe, dass ich dann denke, es lohnt sich ja gar nicht, so viel einzukaufen? Wer weiß, ob ich das alles noch brauche?

Ich könnte doch umgekehrt denken, jetzt lasse ich es mir noch richtig gut gehen und kaufe beste Sachen, bevor es eines Tages nicht mehr schmeckt.

Glaubt man, wenn ich vor einem Möbelgeschäft, in dem ich mir ein neues Bett kaufen wollte, dass ich dann beim Anblick eines vorbeifahrenden Leichenwagens denke, ich brauche vielleicht gar kein neues Bett mehr, sondern könnte gleich auf meinen Sarg sparen?

Ich könnte doch denken, jetzt erneuere ich ganz bewusst meine Wohnung und mache es mir schön, bevor es sich nicht mehr lohnt.

Glaubt man, wenn ich in der Straßenbahn sitze und ein Leichenwagen fährt vorbei, dass ich dann erschrecke? Es könnte doch im Gegenteil so sein, dass mich die Unfreundlichkeit der Mitmenschen und der Ärger, der mich gerade plagt, nicht mehr so tief berühren, sondern dass ich mir sage, lass es gut sein, lass uns freundlich zueinander sein, bevor es zu spät ist. Könnte doch sein.

Mich würden Leichenwagen im Stadtbild sicher nicht stören. Ich denke, es tut uns Menschen gut, wenn wir den Ernst des Lebens inklusive Tod im Alltag nicht ausklammern. Frag nach bei Karl Markovics. Der wird das bestätigen. Er zeigt in seinem Film, welche menschliche Veränderung in einem geschehen kann, wenn man den Tod eben nicht ausklammert.

Ich erinnere mich noch an Szenen aus meiner Kindheit: Wenn ich mit meiner Großmutter unterwegs war und ein Leichenzug oder Leichenwagen unseren Weg kreuzte, sagte meine Oma ganz automatisch: "Der Herr schenke ihm die Ewige Ruhe und das Ewige Licht leuchte ihm! Herr, lasse ihn ruhen in Frieden! Amen."

Wie oft und wie ungeniert wurde damals den Verstorbenen Frieden auf ihrem letzten Weg zugesagt. Was für eine schöne menschliche Geste!

Verstecken wir also nicht die Leichenwagen.