Wie konnte ein 1971 als Mörder verurteilter Österreicher bis heute in Italien und Großbritannien unbehelligt bleiben?
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Vor 60 Jahren ereignete sich in Südtirol die sogenannte Feuernacht. Zehn Jahre später, 1971, wurde der Österreicher Christian Kerbler in Italien zu 22 Jahren Haft wegen Mordes am Tiroler Louis Amplatz rechtskräftig verurteilt. Er befindet sich nach wie vor auf freiem Fuß. Die Republik Österreich entfaltet seit Jahrzehnten keine wesentlichen Bemühungen, um den Rechtszustand wieder herzustellen, also den Mörder dingfest zu machen und dem Vollzug zuzuführen.
Zur Vorgeschichte: Schon in der Zeit von Benito Mussolini begann in Südtirol die Italienisierung; Italienisch war die einzig zugelassene Amts- und Gerichtssprache; deutschsprachige Zeitungen, Deutschunterricht und alles, was sonst noch an die Zeit vor 1918 erinnerte, waren verboten. Nach dem "Anschluss" 1938 kam es 1939 zum Hitler-Mussolini-Pakt. Damit bestand die Möglichkeit, entweder für Deutschland zu optieren und auszuwandern oder in Südtirol zu verbleiben und die italienische Staatsbürgerschaft zu behalten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Südtirol ein sehr begehrtes Versteck für Kriegsverbrecher und flüchtige Nationalsozialisten; staatsrechtlich herrschte dort ein Schwebezustand.
Dort agierte eine Reihe von Geheimdiensten, wie etwa die CIA und CIC auf amerikanischer Seite und die westdeutsche Organisation Gehlen (aus der 1956 der BND hervorging). Bemerkenswert war die Zusammensetzung dieser Geheimdienste: italienische Faschisten, ehemalige SS-Leute, zum Teil gesuchte Kriegsverbrecher, katholische Geistliche und Tiroler Idealisten, landläufig als Freiheitskämpfer bezeichnet. Dazu kamen der Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) sowie dessen Widersacher, der italienische Nachrichtendienst Sifar und die politische Polizei.
Der zwischen Österreich und Italien 1946 abgeschlossene Autonomievertrag in Paris regelte die Selbstbestimmung Südtirols. Doch der Vertrag war von Anfang an "schwach". Starke Gruppen in Süd- und Nordtirol fanden diese Regelung unbefriedigend. Dazu kam, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das durch Gebirge schwer zugängliche Südtirol nicht nur das Aufmarschgebiet von Tiroler und italienischen Geheimbünden war. Durch die Ausbreitung des Kommunismus wurde dieses Gebiet international noch umkämpfter.
Zu dieser Zeit war auch das Flüchtlingsdrama in Südtirol besonders massiv. Die berüchtigte "Rattenlinie", die Nazis benutzten, um nach Südamerika zu entkommen, gereichte den Amerikanern als Vorwand, mit Geheimdiensten diese Fluchtbewegung zu unterwandern beziehungsweise zu verhindern sowie gegen das Schreckgespenst des Kommunismus anzukämpfen. Im Juni 1961 erreichten die Terroranschläge des BAS mit dem Ziel, die Abtretung Südtirols an Österreich zu erwirken, ihren Höhepunkt. Zahlreiche Anschläge sind bis heute ungeklärt geblieben.
Verurteilt, aber ein freier Mann
Aber alles der Reihe nach: Einem dieser Subjekte, einem österreichischen Pseudo-Journalisten, gelang es, sich in das Vertrauen von zwei führenden, allzu leichtgläubigen Köpfen in Innsbruck einzuklinken. Diese beiden, Amplatz und Georg Klotz, versteckten sich auf einer Jagdhütte, wo der später verurteilte Mörder Kerbler am 6./7. September 1964 das Attentat verübte, was mit dem Tod von Amplatz endete. Der andere Freiheitskämpfer, Klotz, konnte sich schwer verletzt nach Nordtirol absetzen. Kerbler wurde von der italienischen Justiz 1971 in Abwesenheit zu 22 Jahren rechtskräftig verurteilt.
Nach der Verurteilung erhielt er von der Republik Italien eine neue Identität und lebte unter dem Alias-Namen Christian Eschenberg überwiegend in England, wo er 1976 wegen Ladendiebstahls verurteilt wurde. In Kenntnis dieses Umstandes und der diplomatischen Note aus England nach Österreich, dass in drei Wochen sein Visum ablaufe, verabsäumte die österreichische Justiz, einen Auslieferungsantrag zu stellen.
Kerbler trat die - mittlerweile verjährte - Strafe nicht an und ist weiterhin auf der Flucht. Das ist richtig und falsch. Da eine nicht verbüßte Strafe in Italien nach 30 Jahren verjährt, ist er seit dem 14. Jänner 2003 in Italien zwar ein verurteilter Mörder, aber ein freier Mann. Anders in Österreich: Nachdem hierzulande Mord keiner Verjährungsfrist unterliegt, behaupte ich, dass die österreichische Justiz an einer justiziellen Verfolgung zumindest fahrlässig bis dato kein Interesse zeigte.
Schuld ohne Sühne? Nein! Denn die Zeit heilt nicht nur Wunden, sondern schafft auch Gerechtigkeit. Heute heißt die Justizministerin Alma Zadic, geboren am 24. Mai 1984 in Tuzla (Bosnien und Herzegowina), im ehemaligen Jugoslawien. Ihre Familie flüchtete vor dem Bosnien-Krieg mit der zehnjährigen Alma nach Österreich. Die korrekte und mutige Juristin Zadic weiß, was Mord heißt. Ihr traue ich zu, dass spät, aber doch das Verbrechen an Amplatz geahndet wird.