Aus Protest werden derzeit nicht nur in den USA und Großbritannien Statuen reihenweise von ihren Sockeln gestoßen. In Wien erregt eine opulente Gedenktafel für Sowjet-Diktator Josef Stalin - der hier 1913 weilte - indes kaum die Gemüter.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
In San Francisco wird Christopher Columbus vom Sockel geräumt, in Washington fällt die Statue des Südstaaten-Generals Albert Pike. In Portland (Oregon) muss ein Abbild des ersten US-Präsidenten, George Washington, daran glauben. Die Polizei kann mit Schlagstöcken in letzter Sekunde verhindern, dass der siebente US-Präsident, Andrew Jackson, unweit des Weißen Hauses einer wütenden Menge zum Opfer fällt.
Seit dem Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz kommen die USA nicht mehr zur Ruhe. Die Menschen versammeln sich, protestieren gegen Rassismus und beginnen damit, die zu Stein und Stahl gewordenen Erinnerungsstücke einer Vergangenheit, die von Sklaverei und Ausrottung der Urbevölkerung gekennzeichnet war, unter Applaus und Gejohle zu demolieren.
Gewalt und Terror
Szenenwechsel Wien: Die Schönbrunner Schlossstraße in Meidling ist eine starke befahrene Hauptdurchzugsroute. Autos und Busse der Linie 10A brausen hier auf zwei Spuren in Richtung Zentrum, die Fahrbahn säumt zu beiden Seiten ein etwa drei Meter breiter Gehsteig. Doch Fußgänger verirren sich kaum hierher. Hier, wo auf der in dezentem Gelb gehaltenen Fassade von Haus Nummer 30 eine Stalin-Gedenktafel prangt - mittlerweile die letzte in ganz Westeuropa. Sie wurde 1949 von Wiens Bürgermeister Theodor Körner anlässlich Stalins 70. Geburtstag feierlich eingeweiht und hat seitdem ihren festen Platz. "In diesem Haus wohnte im Jänner 1913 J.W. Stalin. Hier schrieb er das bedeutende Werk ‚Marxismus und nationale Frage‘", lautet der Text.
Allerdings hat Stalin nicht nur Schriften verfasst. Als Diktator hat er die Sowjetunion nach seiner Machtübernahme 1927 mit Gewalt und Terror überzogen, in zahllosen "Säuberungswellen" wurden Millionen Menschen umgebracht, verschleppt oder in Arbeitslager gesperrt. In der Ukraine erinnert man sich mit Schaudern an den Holodomor, eine von Stalin künstlich herbeigeführte Hungersnot, durch die Millionen Menschen in den 1930ern elend zugrunde gingen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten Stalins Säuberungsaktion unverhohlen antisemitische Züge.
Gründe, die Gendenktafel von der Fassade zu reißen oder ganz regulär von Amts wegen abzumontieren, wären also gegeben.
Doch der Wiener lässt sich in so einem Fall zu überstürzten Handlungen nicht hinreißen. Auch die Che-Guevara-Büste im Donaupark, die 2008 vom damaligen Bürgermeister Michael Häupl eingeweiht wurde, konnte die Gemüter nicht erregen. Gezählte 25 FPÖ-Sympatisanten machten damals ihrem Unmut Luft. Gebremst wurde ihr Zorn durch die Tatsache, dass der damalige FPÖ-Parteichef Heinz-Christian Strache mit dem Wortspiel Stra-CHE kokettierte. Auch eine Debatte über den antisemitischen Bürgermeister Karl Lueger, der in der Innenstadt mit einer Statue vertreten ist, mündete bis dato nicht in einen Aufschrei der Empörung.
Eine Passantin betrachtet unterdessen die Stalin-Gedenktafel interessiert. Die ältere Dame bemerkt das Ding "heute zum ersten Mal", wie sie, von der "Wiener Zeitung" darauf angesprochen, sagt - und sie ist "erstaunt". Trotzdem sieht sie die Angelegenheit entspannt: "Naja, der hat hier gewohnt, und das wird eben festgehalten. Es wird heute ja viel festgehalten."
Wobei es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Versuche gab, die Marmortafel loszuwerden. Niemand geringerer als Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow ließ 1961 nachfragen, ob man das Ding nicht entfernen könne. Die Antwort aus Wien: "Njet." Nach dem Kollaps des Kommunismus 1989 wollte der damalige russische Außenminister Eduard Schewardnadse Österreich von der Notwendigkeit überzeugen, die Platte mit dem großen metallenen Stalin-Kopf abzunehmen. Auch die FPÖ drängte in diese Richtung.
Das Denkmal blieb
Allein, das Denkmal blieb, und es begannen die Legenden zu sprießen. Etwa jene, dass die Plakette wie auch das umstrittene Russen-Denkmal auf dem Schwarzenbergplatz durch den Staatsvertrag geschützt seien. Von diesem Vertrag sind laut Artikel 19 aber nur Kriegsdenkmäler und Friedhöfe betroffen. Der Verfassungsrechtsexperte Theo Öhlinger bestätigt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", dass die Gedenktafel nicht vom Staatsvertrag erfasst wird. Es werde darauf dokumentiert, dass Stalin hier gewohnt habe - was Öhlinger nicht für problematisch hält. Es sei kein Grund, die Tafel zu entfernen. "Stalin ist ja nicht in Wien zum Diktator geworden", meint der Verfassungsjurist. Und: Der Diktator "war nun einmal eine historische Persönlichkeit, die man absolut negativ beurteilen kann". Aber man könne die Existenz Stalins und seinen Stellenwert in der Geschichte nicht leugnen. "Die Tatsache, dass er hier in Wien gelebt und Einflüsse aufgenommen hat, die vielleicht seinen späteren Lebensweg beeinflusst haben, lässt sich nicht leugnen." Stalin etwa mit Adolf Hitler auf eine Stufe zu stellen, hält Öhlinger "aus österreichischer Sicht für nicht gerechtfertigt". Und: "Ich glaube auch nicht, dass diese Tafel jemanden bewegen wird, in Stalin einen besonderen Freund von Minderheiten zu sehen."
Ganz ähnlich argumentiert Öhlingers Kollege, der Verfassungsexperte Bernd-Christian Funk: Die Gedenktafel falle eindeutig nicht unter den Schutz von Artikel 19 des Staatsvertrags, erklärt Funk im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Es findet es "an sich ja eine interessante Tatsache", dass Stalin hier gewohnt hat. "Er hat hier einige von denen getroffen, die er später physisch liquidieren lassen hat." Der Text auf der Tafel stelle jedenfalls keine Verherrlichung dar. "Dass hier steht: ‚bedeutendes Werk‘, heißt ja nicht, dass es qualitativ hochwertig ist", so Funk.
Die Umstände von Stalins Wien-Aufenthalt 1913 sind gut erforscht. Nach dem Willen Lenins sollte sich der spätere Diktator hier mit der Nationalitätenfrage auseinandersetzen. Die k.u.k-Monarchie war das ideale Pflaster dafür, immerhin strebten hier nicht nur Tschechen, Ungarn und Kroaten nach Unabhängigkeit. Die großzügige Wohnung in der Schönbrunner Schlossstraße gehörte Alexander Trojanowski, einem russischen Adeligen, Heeresoffizier und Marxisten, der über viel Geld verfügte. Stalin, der damals den Spitznamen "Sosso" trug, kam in den ersten Jänner-Tagen über Krakau in die Kaiserstadt und wohnte in den kommenden Wochen bei Trojanowski und dessen junger Frau Jelena Rosmirowitsch als Untermieter.
"Schreibe allerhand Unsinn"
Heute befindet sich in dem Haus die Pension Schönbrunn. Hier logieren - wie auch 1913 - nur Dauergäste. Stalins Zimmer hatte die Fenster auf die Straße hinaus - jene Straße, die der alte Kaiser Franz Joseph regelmäßig benutzte, wenn er mit seiner Kutsche von Schönbrunn in die Hofburg fuhr. Stalin machte sich an die von Lenin gestellte Aufgabe und begann mit der Arbeit an "Marxismus und die nationale Frage". Sein Gastgeber war auch der Herausgeber jener Zeitschrift, in der der Text dann erscheinen sollte. Allerdings dürfte Stalins Herz nicht besonders an dem selbst verfassten Konvolut gehangen haben. In einem Brief schrieb er an seinen Parteifreund Roman Malinowski: "Lieber Freund, ich sitze noch in Wien und (. . .) schreibe allerhand Unsinn."
Stalin lehnt in seiner Schrift den Nationalismus ab. Dieser zersplittere die einheitliche Arbeiterbewegung, so Stalin, was am Beispiel Österreich-Ungarns sichtbar werde. Es gebe hier sechs sozialdemokatische Parteien, wobei etwa die tschechische mit der deutschen nichts zu tun haben wolle. Bei den Gewerkschaften sehe es nicht besser aus. "Das einzige Mittel dagegen ist die Organisierung nach den Grundätzen der Internationalität", so Stalins Resümee. Er setzte sich intensiv mit dem Austromarxisten Otto Bauer auseinander, den er ausgiebig zitierte - und kritisierte. Stalin konnte aber kein Deutsch, er hat auch die russische Sprache nie perfekt beherrscht. Als Kind sprach er nur Georgisch, erst mit acht oder neun lernte er Russisch. Bis zuletzt hatte er einen starken Akzent, seine Texte waren voll orthografischer Fehler.
Mit Hitler in Schönbrunn
Das Buch über die Nationalitätenfrage konnte Stalin also nur mit Hilfe eines Übersetzers schreiben. Diese Hilfe bekam er von Nikolai Bucharin, einem intellektuellen Bolschewiken, der jeden Tag in die Schönbrunner Schlossstraße kam. Stalin und Bucharin kamen gut miteinander aus. Später ließ Stalin seinem Freund aus Wiener Tagen eine Kugel in den Kopf schießen - weil er ihn verhängnisvoller Weise bewunderte und beneidete.
Auch das Kindermädchen der Trojanowskis, Olga Weiland, half Stalin bei der Übersetzungsarbeit. "Die Nationalitätenfrage war unser einziges Konversationsthema", erzählte die einstige Babysitterin später. Wir wissen heute auch, dass sich Stalin mit dem Kind der Trojanowskis, der kleinen Galina, gut verstand. Er spielte häufig mit ihr und kaufte ihr Bonbons im benachbarten Schönbrunner Schlosspark. Dort unternahm zeitgleich eine Person aus dem Männerwohnheim Meldemannstraße regelmäßig ausgedehnte Spaziergänge: Adolf Hitler war bis Mai 1913 in Wien, erst dann verließ er die Stadt in Richtung München. Es ist also möglich, dass sich Hitler und Stalin in Schönbrunn über den Weg gelaufen sind. Als Politiker haben sich die beiden freilich nie persönlich getroffen.
Als im Dezember 1949 die Gedenktafel für Stalin an der Fassade des Hauses in der Schönbrunner Schlossstraße montiert wurde, war Wien Hauptstadt von den Alliierten besetzt, wobei die Schönbrunner Schlossstraße in der britischen Zone lag. Die Tafel wurde von der Kommunistische Partei Österreichs gewidmet - die KP war mit fünf Mandataren im Parlament und auch im Wiener Gemeinderat vertreten - und von Bürgermeister Theodor Körner in einem feierlichen Akt eingeweiht.
Eine heikle Sache
Es ist nicht auszuschließen, dass man den grimmigen Russen im Kreml zu dessen 70. Geburtstag günstig stimmen wollte. Österreich strebte mit voller Kraft seine Unabhängigkeit an, war aber den Sowjets ausgeliefert. Körner war klar, dass die Sache heikel war, also wählte er seine Worte bei der Enthüllung des Denkmals am 21. Dezember 1949 mit Bedacht. Er betonte, dass er an den Friedenswillen Stalins glaube, übermittelte seine Glückwünsche und meinte: "Stalin und die Rote Armee haben unserem Wien die Befreiung unter größtmöglicher Schonung der Stadt - das kann ich als Militärfachmann sagen - gebracht." Seitdem steht die Tafel unter der Obhut der Stadt, verantwortlich für Erhaltung und Pflege ist die Magistratsabteilung 7.
Als Körner seine Ansprache hielt, war die internationale Lage trüb. Der Kalte Krieg war voll im Gange, die Sowjets versuchten Westberlin abzuschneiden, die Bevölkerung musste von den Alliierten aus der Luft versorgt werden. Der Westen und das Sowjet-Imperium standen einander erst misstrauisch, dann offen feindselig gegenüber. In den sowjetischen Satellitenstaaten Osteuropas wütete der KP-Terror, und der Personenkult rund um den Diktator trieb die skurrilsten Blüten. Es war die Zeit der stalinistischen Schauprozesse, eine düstere, beklemmende Periode vor allem für alle jene, die damals im kommunistischen Einflussbereich lebten.
So wurde der damalige ungarische Außenminister Laszlo Rajk 1949 als "imperialistischer Agent" und "Titoist" in einem Schauprozess verurteilt und hingerichtet. Wobei Rajk selbst überzeugter, ja fanatischer Kommunist und Anhänger Stalins war. Er soll nach dem Willen des sowjetischen Geheimdienstchefs Lawrenti Beria Kontakte zum US-Geheimdienst gehabt haben und wurde ans Messer geliefert. Rajk wurde zu einem Geständnis "überredet", indem man ihn von höchster Stelle überzeugte, dass das Ziel des Prozesses nur die Einschüchterung des "imperialistischen Feindes" sei und die Todesstrafe nicht verhängt würde. Rajks Geständnis wurde von der ungarischen Staatssicherheit heimlich aufgenommen und dann im ungarischen Radio gesendet. In den folgenden Jahren kam es zu einer Säuberungswelle auch in der CSSR. Dort wurde KP-Generalsekretär Rudolf Slansky als Kopf einer "trotzkistisch-titoistisch-zionistischen" Verschwörung angeklagt und zum Tod verurteilt.
"Nicht verdrängen"
Auf Nachfrage bestätigt die Stadt Wien, dass die Tafel nicht unter Denkmalschutz steht.
Eine Demontage befürwortet der Verfassungsjurist Funk nicht: Chruschtschow habe zwar den Wunsch geäußert, die Tafel zu entfernen, aber: "Wie wir wissen, hat sich die offizielle Einschätzung zu Stalin wieder gedreht. Unter Putin gibt es in gewisser Weise eine Stalin-Renaissance." Funk ist generell "gegen "Bilderstürme". Allerdings sollten "Gedenkstätten, die an etwas erinnern, an das man sich nicht gerne erinnert, mit Zusatzinformationen versehen werden". Was im Fall der Stalin-Gedenktafel geschehen ist: Auf einer am rechten Rand etwas gebogenen Tafel aus dem Jahr 2012 wird vermerkt, dass die Plakette eine "Mahnung und Erinnerung" sei. Auch werden die Millionen Opfer des Stalin-Terrors erwähnt und die hunderten österreichischen Opfer, die vor Ständestaat und Nationalsozialismus geflüchtet waren und in der Sowjetunion dann Stalin zu Opfer fielen.
Ein Beibehalten hält Funk für "wesentlich besser, redlicher und fairer" als eine Demontage. "Wenn das alles wegkommt, dann gerät es eher in Vergessenheit. Die Tafel hat durch den Zusatz einen Informationswert." Dass die Gedenktafel in den 1960ern trotz Drängens aus Moskau nicht abgenommen wurde, kann Funk verstehen: "Heute wissen wir, dass die Entstalinisierung in der Sowjetunion auch ein ‚stalinistischer‘ Machtkampf war. Auch wenn unter Chruschtschow nicht so viele Leute mit dieser Brutalität liquidiert, verschleppt und eingesperrt worden sind", so Funk.
Im Streit um das Siegfried-Denkmal in der Aula der Uni Wien argumentierte er ganz ähnlich. Das Denkmal wurde beschädigt und dann nach langen Diskussionen entfernt. "Ich war schon damals der Auffassung, dass man das nicht wegräumen, sondern durch eine zusätzliche Erklärung sicherstellen sollte, dass sich dort niemand falsche Vorstellungen machen kann." Etwa durch eine zusätzliche Erklärung. Er, so Funk, sei dafür, Denkmäler nicht wegzuräumen. "Weil die dann irgendwann wieder kommen. Man sollte sie aber ganz deutlich desavouieren.
Wobei die Wiener ihre heutige Toleranz und Gelassenheit nicht immer an den Tag legten. Als die sowjetischen Besatzer mit dem Staatsvertrag 1955 die Stadt verließen, musste die Stalin-Gedenktafel von der Polizei gegen Vandalismus geschützt werden. Es gab Schuss- und Farbattentate und eine Bombendrohung. In den vergangenen zehn Jahren wurde die Tafel laut Informationen der Stadt Wien 2011 und 2015 beschmiert, 2018 wurde die Zusatztafel beschädigt.