Höhere Mehrwertsteuer: Opposition spricht von Wahlbetrug. | FDP und Grüne wollen gegen Budgetplan klagen. | Berlin. Dass die Streichung von Subventionen, die Beschneidung von Arbeitnehmerrechten und die massive Mehrwertsteuererhöhung Freudenfeuer auslösen würde, hat ohnehin niemand erwartet. In der deutschen Öffentlichkeit haben sich zwei schmerzhafte Erkenntnisse durchgesetzt: Erstens gibt es keine Alternative zu einer Großen Koalition und zweitens keine Trendumkehr ohne harte Einschnitte. Die Opferbereitschaft hält sich zwar in Grenzen, doch bei einer Arbeitslosigkeit von gut fünf Millionen Menschen haben die alten lobbyistischen Gruppenegoismen ausgedient.
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Eine neue Nüchternheit ist eingekehrt, oder, wie der designierte Gesundheitsminister Horst Seehofer heute in München formulierte, "eine neue Kultur der Ernsthaftigkeit".
Nachdem die "Lebensabschnittspartner", CDU, SPD und CSU, in den letzten vier Wochen einen leidlich mutigen Ehevertrag ausgehandelt hatten, mussten sie das Ergebnis am Montag dem Stahlbad ihrer jeweiligen Parteifamilien aussetzen, die CDU in Berlin, die SPD in Karlsruhe und die CSU in München. Alle drei Parteien erhielten den Sanktus. Auf dem kleinen Parteitag der CDU gab es 100 Progegen drei Nein-Stimmen und eine Enthaltung, auf jenem der CSU stimmten die Delegierten gar einstimmig dafür und bei den Sozialdemokraten, die als einzige einen ordentlichen Parteitag abhielten, billigten nach einer mehrstündigen, teils kontroversen Debatte die gut 500 Delegierten mit sehr großer Mehrheit den Koalitions-Vertrag.
Stoiber hatte erneut
Erklärungsbedarf
Zudem standen personelle Fragen am Tapet. Die Sozialdemokraten tauschen heute, Dienstag, nach dem Rücktritt Franz Münteferings ihre Führungsriege komplett aus, während CSU-Chef Edmund Stoiber in München die Scherben seines Ritts durch den Porzellanladen aufzusammeln hatte. Er musste den Kohorten erklären, weshalb sie nun erneut ihn und nicht seine bereits in den Starlöchern befindlichen Diadochen auf den Schild heben sollten. Die Parteitagsregie in München versuchte folglich alles, die Diskussionen in den Messehallen auf die Sachfragen einzuschränken.
Zwischen der Einigung der Unterhändler am vergangenen Freitag und dem Parteiplebiszit vom Wochenbeginn nutzten natürlich die Kritiker das Wochenende, lösten aber dabei keine Überraschungen aus.
FDP und Grüne wollen die Steilvorlage der künftigen Regierung, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik einen verfassungswidrigen Haushaltsentwurf vorzulegen, nicht an sich vorbeirollen lassen und haben vage einen Gang zum Verfassungshüter in Karlsruhe angekündigt. Ähnliche Verfahren in einzelnen Bundesländern endeten meist damit, dass die Verfassungsrichter die Exekutive mahnten, möglichst unverzüglich zur Verfassungstreue zurückzukehren. Die Drohung der Opposition ist also nicht besonders abschreckend.
Friedrich Merz, seit langem interner Gegenspieler der designierten Bundeskanzlerin Angela Merkel, meldete sich gleichfalls zu Wort. Der Koalitionspakt lasse, so meinte er, die Handschrift der Union kaum noch erkennen. Doch wird ihm aus den eigenen Reihen entgegen gehalten, dass die "reine Lehre" seiner Steuerpolitik (und des späteren "Kirchhof-Modells") offenbar schon vom Wähler abgelehnt worden war.
Opposition spricht
von Wahlbetrug
Schwerer wiegt da schon der Vorwurf des "Wahlbetrugs". Nicht zu unrecht weist die Opposition darauf hin, dass die Union die höhere Mehrwertsteuer vor allem zur Senkung von Lohnnebenkosten verwenden wollte und die SPD eine Erhöhung überhaupt ablehnte. Nun soll sie statt auf 18 sogar auf 19 Prozent, also um drei Punkte, erhöht und vorwiegend zur Haushaltssanierung eingesetzt werden. Hier werden Grüne und Liberale auch von der Wirtschaft und von der Wissenschaft unterstützt, die eine so krasse Erhöhung als "Gift für die Konjunktur" bezeichnen.
Dieser Drei-Prozent-Sprung ist gleichzeitig die dickste Kröte, die man der SPD-Parteibasis zum Verzehr kredenzt: Im Wahlkampf noch vehement abgelehnt, weil gegen sozial Schwache gerichtet und konjunkturdämpfend, wird die Mehrwertsteuer noch höher, als selbst der damalige Gegner Union es wagte.
Steinbrücks Griff
nach dem Tafelsilber
Einen eleganten, aber deutlichen Dämpfer erfuhren auch die Blütenträume des kommenden SPD-Finanzministers Peer Steinbrück, dem nach den deutschen Goldreserven gelüstet. Der Welt zweitgrößte Reserven (nach den USA) könnten, so Steinbrück, vor allem für Forschung und Wissenschaft eingesetzt werden. 120 der insgesamt dreieinhalbtausend Tonnen dürfte die Bundesbank jährlich am Markt "verflüssigen" und damit das tote Kapital zu neuem Leben erwecken. Diese scheint jedoch nicht im Traum daran zu denken und pocht vorerst einmal auf ihre Unberührbarkeit und Unabhängigkeit von der Politik.
Dem Beobachter wird indes durch solche Überlegungen der Ernst der Lage bewusst. Das Tafelsilber der Republik muss angegriffen werden, um dem Land Zukunftsperspektiven zu erschließen. Andererseits: Es wurde in der Vergangenheit schon für weniger edle Zwecke verscherbelt.
So ist zwar die Unzufriedenheit mit dem Schwarz-Roten Projekt groß, aber die kritischen Stimmen kommen angesichts der realen Probleme nicht wirklich zur Geltung. Zähneknirschend scheint sich der Wähler in die Folgen seines eigenen Votums zu fügen.
Zwar blieben in dem 150-Seiten-Paket einige wichtige Brocken noch offen, wie die Gesundheits- oder die Steuerreform. Aber es ist auch nicht der "kleinste gemeinsame Nenner" geworden, wie viele anfangs befürchteten.
Eine Art
Ausnahmezustand
Deshalb rechnen bei der Abstimmung im Bundestag am kommenden Freitag auch alle mit einer - nicht jubelnden, dennoch deutlichen - Zustimmung zur Großen Koalition. Ein ungewöhnlicher, ein historischer Abschnitt für dieses Land. Denn anders als in Österreich, das in den letzten sechs Dezennien mehr als dreißig Jahre lang von Großen Koalitionen regiert wurde, waren es in Deutschland im gleichen Zeitraum nicht einmal drei Jahre (1966-69).
Große Koalitionen sind hierzulande eigentlich nur für Ausnahmezustände vorgesehen. Betrachtet man die Arbeitslosenzahlen, die Strukturprobleme der Wirtschaft und die Verschuldung der öffentlichen Hände, ist man nicht mehr sicher, ob dieser Ausnahmezustand nicht schon längst eingetreten ist.