Zwischen Moskau und dem Westen herrscht dicke Luft. Das war nicht immer so. Ein Blick auf die Geschichte einer gründlichen Entfremdung.
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Ist es die letzte Chance, einen Großangriff Russlands auf die Ukraine zu verhindern? Am Sonntag und Montag treffen sich Vertreter aus Moskau und Washington in Genf, zwei Tage später soll - erstmals seit langem - der Nato-Russland-Rat zusammentreffen. Am 13. Jänner folgen noch Konsultationen zwischen Moskau und der OSZE.
Der Gesprächsreigen soll eine militärische Eskalation in dem Streit um die Ukraine abwenden. Kreml-Chef Wladimir Putin sieht sein Land bedroht. Ein Nato-Beitritt der Ukraine käme für den russischen Präsidenten dem Überschreiten einer roten Linie gleich. Putin verlangt von dem westlichen Militärbündnis, das einen Beitritt der Ukraine und Georgiens zumindest nicht ausschließt, einen schriftlichen Verzicht auf eine weitere Osterweiterung. Russland will zudem erreichen, dass sich die Nato-Mitglieder verpflichten, auf dem Gebiet der Ukraine und anderer Staaten Osteuropas, des Südkaukasus und in Zentralasien militärische Handlungen zu unterlassen.
Im Westen wertet man dieses Ansinnen Russlands als skandalös: Schließlich, wird argumentiert, handle es sich bei der Ukraine um einen souveränen Staat, der über sein Schicksal selbst entscheiden könne. Der Wunsch des Kremls, völkerrechtlich haltbare Sicherheitsgarantien vom Westen zu bekommen, wird als ein Wiederaufleben eines Denkens in Einflusssphären angesehen, das spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges überwunden sein sollte. Zwar betonte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass das Bündnis gesprächsbereit sei. Man werde sich aber von Russland nicht vorschreiben lassen, wen man aufnehme.
Rasch zerstobene Träume
Eine rasche Lösung ist bei solch divergierenden Standpunkten kaum zu erwarten. Dass die USA in die Gespräche erst eingewilligt haben, als Russland an der ukrainischen Grenze eine imposante Drohkulisse aufgebaut hat, verstärkt in Moskau eine Haltung, die sich in den vergangenen 30 Jahren aufgebaut hat und die an hiesige Putin-Psychogramme erinnert: nämlich die, dass der Westen nur die Sprache der Stärke versteht. Schwäche, so die Überzeugung seit den demütigenden 1990er Jahren, wird gnadenlos ausgenützt.
Es ist eine Sicht auf die Welt, wie sie 1991, als die Sowjetunion zerbrach und mutige Moskauer Bürger an der Seite des russischen Präsidenten Boris Jelzin einen kommunistischen Putschversuch abwehrten, noch nicht hegemonial war. Damals gab es - trotz des Frusts über die Reformen von KPdSU-Chef Michail Gorbatschow - noch Hoffnung auf eine wirtschaftliche Erholung durch rasche Reformen. Ebenso gab es Träume von einem ausgesöhnten Verhältnis zum Westen und dessen Hilfe beim Aufbau der Wirtschaft, selbst von einem möglichen Nato-Beitritt war die Rede.
All diese Szenarien erwiesen sich rasch als unrealistisch. Während breite Massen verarmten und der entschwundenen Sicherheit des alten Sowjetsystems nachtrauerten, war es ausgerechnet die ex-kommunistische Elite, die sich in den 1990er Jahren - zumindest äußerlich - für westlich-liberale Modelle begeisterte. Kein Wunder: In sämtlichen ehemals sozialistischen Staaten waren es die Jungkommunisten, die über die nötigen Beziehungen verfügten, um sich die Filetstücke der Staatswirtschaft unter den Nagel zu reißen.
Während für die Völker Ostmitteleuropas wie Polen, die Balten oder Ungarn der Zerfall der UdSSR als Befreiung empfunden wurde - er war zudem auch mit der lange ersehnten Aufnahme in den exklusiven Club der westlichen Staaten verbunden -, während der Zerfall der UdSSR für Ukrainer oder Zentralasiaten die ersehnte Unabhängigkeit brachte, war das plötzliche Abhandenkommen des Imperiums für die meisten Russen ein Schock. Zwar hatten viele von ihnen lange über die Unzulänglichkeiten des kommunistischen Systems ebenso geschimpft wie über jene Unsummen an Rubel, die die Moskauer Zentrale in die einzelnen Sowjetrepubliken pumpte: Manche waren 1992 froh, Ballast losgeworden zu sein. Die Verarmung breiter Schichten in Kombination mit dem lautlosen und friedlichen Zerfall eines Landes, dessen zentraler Mythos mit dem Sieg im Zweiten Weltkrieg noch dazu ein kämpferischer war, stürzte Russland allerdings in ein Dolchstoß-Trauma, das dem Deutschlands nach dem Versailler Vertrag 1919 ähnelte. Dass für den beklagenswerten Zustand des Landes nicht einmal ein verlorener Krieg verantwortlich gemacht werden konnte, ließ Verschwörungstheorien aufkommen. Bis heute hält sich in Russland die Mär, Gorbatschow, Boris Jelzin und ihre Berater seien vom Westen gekauft worden, um Russland zugrunde zu richten.
Die Enttäuschung brach sich rasch Bahn und konnte nur mithilfe geschickter, oft zynischer PR-Experten kanalisiert werden. Sie waren es, die 1996 mit allen möglichen Tricks die Wiederwahl Jelzins zum Präsidenten sicherten und KP-Chef Gennadi Sjuganow als Staatschef verhinderten. Die Rubel-Krise 1998, die zu zusätzlicher Verarmung führte, und der Nato-Krieg gegen Jugoslawien 1999 verstärkten noch die Abkehr von westlichen Modellen. Worte wie Demokratie oder freie Marktwirtschaft konnten vor dem Hintergrund der Erfahrungen der meisten russischen Bürger nur zynisch, gewissermaßen unter Anführungszeichen gebraucht werden.
"Naiv" als Schimpfwort
Den Zerfall des Kommunismus als Befreiung, als gemeinsamen Sieg mit dem Westen zu empfinden, war nur wenigen Dissidenten möglich. Was sich vielmehr verbreitete, war ein Blick auf die Welt, der einen echten Gegensatz zu jenem Menschenbild bildete, wie es sich im (heute linksliberal) geprägten Westen in der Wohlstandsperiode nach 1945 durchgesetzt hat: Es ist ein kalter, nüchterner Blick, eine Haltung, die hinter schönen Worten wie "Menschenrechte" kühle Interessenspolitik vermutet.
Dass Russland 1991 die Erfahrung der Niederlage gemacht hat, sehen nicht wenige Beobachter im größten Land der Welt als Vorteil an. Man habe sich, so etwa Putin-Berater Sergej Karaganow, damals von Illusionen befreit. Viele sind der Ansicht, dass eben das Russland für die konkurrenzorientierte und oft zynische Welt der Zukunft fit gemacht hat, während der Hauptgegner, der Westen, sich mit Geschlechterfragen, der Abwertung der traditionellen Familie und Ähnlichem beschäftigt und damit in eine ideologische Sackgasse rennt - ähnlich wie man selbst zur Zeit der Sowjetunion. Politisch allzu "naiv" zu sein, gehört in Russland heute in die Kategorie der Schimpfwörter. Dies auch deshalb, weil man sich in Moskau vom Westen hintergangen fühlt. So hätten, heißt es, die USA und ihre Verbündeten mit der Nato-Osterweiterung ein Versprechen gebrochen, das Gorbatschow gegeben worden sei: dass sich die westliche Allianz nicht nach Osten erweitern werde.
Die Nato, die in zwei Erweiterungswellen 1999 und 2004 bis an die Tore von Putins Heimatstadt St. Petersburg vorrückte, bestreitet, ein solches mündliches Versprechen gegeben zu haben. Sie reagierte auf das Sicherheitsbedürfnis der Länder Ostmitteleuropas, die Russlands Schwäche in den 1990er Jahren nutzten und sich - nach der traumatischen kommunistischen Periode - beeilten, unter den Nato-Schirm zu kommen. Was für die Nato nur die Erweiterung einer Friedens- und Stabilitätszone war, war für den Kreml die Vergrößerung der Einflusssphäre des Westens - daran änderten auch gemeinsame Dialoggruppen nichts.
Dass Ex-US-Präsident George W. Bush auf russische Kooperationsangebote mit der Kündigung von wichtigen Rüstungskontrollverträgen reagierte, wurde in den 2000ern ebenso negativ vermerkt wie die Rosenrevolution in Georgien und die Orange Revolution in der Ukraine, die schroff prowestliche Politiker ans Ruder brachten - teils mit Unterstützung westlicher NGOs.
Wendepunkt Libyen
Spätestens als der Westen Russlands Zustimmung zu einer Flugverbotszone in Libyen 2011 zur Unterstützung der Rebellen gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi nutzte, wurden im Kreml Konsequenzen gezogen: Als Putin 2012 wieder dort einzog, zeigte er sich entschlossen, dem Agieren des Westens künftig Grenzen zu setzen. Ganz im Sinne der "illusionslosen" Haltung, die in Russland hegemonial wurde, gab er sich als trocken-realistischer Machtpolitiker, der dem Westen den Spiegel vorhielt und damit dessen Heuchelei entlarvte.
Damit erreicht der Kreml-Chef auch hierzulande ein Publikum: Dass es den USA bei ihren zahlreichen humanitären Interventionen nicht um Menschen-, sondern um Schürfrechte ginge, ist schließlich nicht nur die Meinung linksorientierter deutscher Kabarettisten, sondern breiter Schichten. Und dass der Hinweis auf die ukrainische Souveränität, wenn es um militärische Sicherheit von Großmächten geht, nur eine Seite der Wahrheit ist, zeigte sich etwa auch an der Kuba-Krise 1962. Da hatte die UdSSR ihre Raketen auf Kuba, in einem souveränen Staat, auf US-Druck wieder abziehen müssen - sonst wäre der Weltkrieg ausgebrochen.
Dennoch ist die Haltung vieler Kreml-Politiker von wirklichem Realismus oft weit entfernt. Hinter aktuellen wie vergangenen Ereignissen wird mit zunehmender Obsession das Wirken von Geheimdiensten gesehen. Unterschlagen werden dabei andere Faktoren, in der Ukraine beim Euromaidan ebenso wie in Belarus. Besonders in Weißrussland waren die Gründe für den Aufstand gegen Präsident Alexander Lukaschenko innen- und nicht geopolitischer Natur. Auch bei den Protesten in Kasachstan vermutete der Kreml reflexartig Einmischung von außen - und mischte sich danach selbst ein.