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Keine Zeit für Siegesfeiern: Auf die türkische Regierung wartet Arbeit

Von Martyna Czarnowska

Analysen

Grund genug für einen öffentlichen Triumphschrei hätte Recep Tayyip Erdogan allemal gehabt. Doch der türkische Ministerpräsident verkniff es sich, überschwänglich darüber zu jubeln, dass das Verfassungsgericht seine Partei AKP nicht verbieten lässt - auch wenn die knappe Entscheidung der Richter ein weiterer Sieg für den Premier ist. Vor einem Jahr holte seine Fraktion bei der Parlamentswahl fast die Hälfte der Stimmen, die Kür des AKP-Politikers Abdullah Gül zum Staatspräsidenten wurde durchgesetzt, und der juristische Versuch, die AKP zu schwächen, ist nun ebenfalls fehlgeschlagen.


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Doch Erdogan weiß genau, dass der Schlussstrich unter dem Parteiverbotsverfahren nicht das Ende der Spannungen in der Türkei bedeutet. So sprachen die Richter eine deutliche Warnung an die AKP aus, künftig mehr Konsens in der Regierungspolitik zu suchen. Denn die türkische Gesellschaft ist tief gespalten, und die Ängste eines Teiles der Bevölkerung vor weiterer Islamisierung des Landes sitzen tief. Hinzu kommen türkische und kurdische Nationalismen, die sich gegeneinander aufwiegeln.

Mit seinen oft provozierenden Aussagen hat Erdogan selbst zu wenig dazu beigetragen, die aufgeheizte politische Debatte zu entschärfen. Gleichzeitig hat die Regierung, beschäftigt mit dem Parteiverbotsverfahren, notwendige Reformen vernachlässigt. Dies hat auch viele Liberale enttäuscht, die die AKP noch im Vorjahr wegen der wirtschaftlichen Erfolge des Landes sowie der forcierten Annäherung an die Europäische Union unterstützt haben.

Für Siegesfeiern oder Rachefeldzüge gegen Gegner hat die Regierung in Ankara daher keine Zeit. Viel mehr als in den vergangenen Monaten muss sie sich nun auf ihre Arbeit konzentrieren. So drängen Ökonomen auf Maßnahmen gegen die hohe Inflation und das wachsende Leistungsbilanzdefizit. Das könnte heuer 50 Milliarden US-Dollar betragen; die Teuerungsrate liegt bei zehn Prozent. Die politisch instabile Lage hatte zuletzt auch ausländische Investoren verunsichert.

Die EU wiederum pocht auf weitere Demokratisierung in der Türkei. Seit ihrer Wiederwahl hat sich die AKP nämlich kaum um die Beschleunigung der Reformen gekümmert, die Brüssel verlangt. Eines der zentralen Wahlversprechen, eine Verfassungsänderung für mehr Bürger- und Minderheitenrechte sowie zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, ist noch immer nicht eingelöst.

Und nicht zuletzt steht die Regierung weiterhin vor der Aufgabe, das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung zu gewinnen oder wiederzuerlangen. Immerhin befand die Mehrheit der Verfassungsrichter, dass die AKP mit ihren islamischen Wurzeln die "Prinzipien des Säkularismus" verletze. "Stimmt nicht", sagt die Partei. Doch sie muss es auch immer und immer wieder beweisen.