Die Landwirtschaft hat einen entscheidenden Einfluss darauf, ob die EU die angestrebte Klimaneutralität erreichen kann.
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Oldie, but Goldie: Die Gemeinsame Agrarpolitik in Europa beging 2022 ihr 60-jähriges Jubiläum. Sie ist folglich die älteste EU-Politik, die nach wie vor angewandt wird. 1962 wurde die Gemeinsame Agrarpolitik eingeführt, um die Produktivität der Landwirtschaft zu steigern und einen angemessenen Lebensstandard für Landwirtinnen und Landwirte sicherzustellen. Weitere Ziele waren Versorgungssicherheit - also Lebensmittel zu erschwinglichen Preisen - und die Angleichung der Wettbewerbsregeln.
Die Agrarpolitik führt seit jeher ein bewegtes Dasein und wurde mehrfach reformiert - zum Beispiel im Jahr 1999 im Hinblick auf die große EU-Erweiterungsrunde 2004. Damals floss noch die Hälfte des EU-Haushalts in die Landwirtschaft. Die jüngste Reform ist seit 2021 in Kraft. Sie trägt dem Kampf gegen den Klimawandel und der erhöhten Nachfrage nach ökologischen Produkten ebenso Rechnung wie der Forderung nach mehr Unterstützung für kleine Betriebe und einem größeren Spielraum für die Mitgliedstaaten.
Das alles ist auch im Interesse Österreichs, wo es derzeit mehr als 110.000 landwirtschaftliche Betriebe gibt. In der EU insgesamt sind es 10 Millionen Betriebe, die für 39 Prozent der Gesamtfläche der EU verantwortlich sind. Rund 22 Millionen Menschen arbeiten regelmäßig im Agrarsektor, in den fast ein Drittel des EU-Haushalts fließt - das sind rund 380 Milliarden Euro in der aktuellen Finanzperiode 2021 bis 2027.
Österreich Spitzenreiter
Die EU-Mitgliedstaaten haben gemeinsam beschlossen, dass die Europäische Union spätestens im Jahr 2050 klimaneutral sein soll. Die Landwirtschaft hat einen entscheidenden Einfluss darauf, ob die Saat aufgeht. Sie verursacht rund 10 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen in der EU - das ist der höchste Anteil nach den Industriezweigen Energie, Verkehr, Wohnraum und Handel. Die EU-Kommission hat mit einer Reihe von Gesetzesinitiativen die Weichen für einen grüneren und nachhaltigeren Agrarsektor gestellt. Spätestens im Jahr 2030 sollen 25 Prozent statt derzeit rund 10 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen biologisch bewirtschaftet werden. Dass dies möglich ist, beweist Österreich, das die Quote bereits erreicht hat und EU-weit Spitzenreiter bei der biologischen Landwirtschaft ist.
Weiters hat die EU-Kommission vorgeschlagen, den Einsatz von Pestiziden bis 2030 um 50 Prozent zu reduzieren. Um das gemeinsam zu erreichen, sollen die Mitgliedstaaten rechtsverbindliche Ziele festlegen. Sie dürfen dabei unter anderem die bisherigen Fortschritte und die Intensität des Pestizideinsatzes berücksichtigen. Das nationale Ziel muss jedoch mindestens 35 Prozent betragen. Pestizide gefährden nicht nur die menschliche Gesundheit, sondern auch Bestäuber - Stichwort Bienen, die für die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung notwendig sind. Mehr als 75 Prozent der weltweiten Nahrungspflanzenkulturen sind auf die Bestäubung durch Tiere angewiesen.
Probleme gelöst
Natürlich erfordert die Halbierung des Pestizideinsatzes eine Umstellung. Die Europäische Union steht den Landwirten finanziell zur Seite und fördert auch die Entwicklung weiterer Alternativen. Das EU-Parlament und die 27 Mitgliedstaaten verhandeln aktuell darüber, wie bei der notwendigen Verringerung des Einsatzes von Pestiziden zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Landwirte und unseren gemeinsamen ökologischen Zielen ein vernünftiger Ausgleich gefunden werden kann. Fest steht allerdings, dass ohne einen starken Umwelt- und Klimaschutz auch die Landwirtschaft in Europa mittelfristig keine Zukunft hat.
Die EU-Vorschriften für den Agrarsektor sind hochkomplex, und die EU-Kommission ist gefordert, diese anzupassen, wenn es zu unerwünschten Nebenwirkungen kommt. So wurden im April die Vermarktungsnormen aktualisiert, um unter anderem dafür zu sorgen, dass Eier auch dann als Freilandeier angepriesen werden dürfen, wenn Solarpaneele auf der Wiese stehen. Damit ist die Debatte über die EU-Agrarpolitik hierzulande um ein vermeintliches faules Ei ärmer. Übrigens hat die EU-Kommission im April auch ein großflächiges Comeback der Marmelade in die Wege geleitet: Künftig darf auch Gelee, das aus Marillen, Erdbeeren oder anderen Früchten besteht, als Marmelade bezeichnet werden. In der Vergangenheit musste Marmelade auf Drängen des Vereinigten Königreichs auf Zitrusfrüchten basieren.
Flexibilität in Krisenzeiten
Dass die Gemeinsame Agrarpolitik flexibel ist, beweist sie auch in Krisenzeiten - zuletzt infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Die EU unterstützte Landwirte, die am schwersten von den - durch die Energiekrise verursachten - höheren Herstellungskosten betroffen waren, im März 2022 mit 500 Millionen Euro. Neben diesen und weiteren finanziellen Hilfen kam es auch zu vorübergehenden Ausnahmen bei bestimmten Anforderungen wie Stilllegungsflächen, um die Kapazität der EU zur Getreideproduktion zu erhöhen. Darüber hinaus hat die EU eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um den Export aus der Ukraine zu ermöglichen - Stichwort Solidaritätskorridore - und die weltweite Ernährungssicherheit zu unterstützen.
Klar ist: Die Landwirtschaft steht zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Aspekte rund um Ökologie, Klimaschutz und Tierwohl spielen eine immer wichtigere Rolle. Gleichzeitig müssen Lebensmittel leistbar bleiben. Gesunde Ernährung darf keine Frage der Stärke des Geldbörsels sein. Es ist wichtig, dass die EU-Mitgliedstaaten ihre Spielräume nutzen, die es zum Beispiel im Hinblick auf die Reduktion der Mehrwertsteuer für Lebensmittel gibt. Unabdingbar ist aber auch, in der Debatte rund um die Landwirtschaft nicht nur Herausforderungen und Hindernisse, sondern auch Errungenschaften und Chancen zu sehen.
Fest steht: Die EU-Agrarpolitik wird auch in Zukunft ein bewegtes Leben haben. Die in Aussicht gestellten EU-Beitritte der Ukraine und der Balkanstaaten werden weitere Reformen notwendig machen. Gemeinsam und mit kühlem Kopf wird es uns auch hier gelingen, Lösungen zu finden. Stillstand war ohnedies noch nie eine Option. In der Landwirtschaft ebenso wenig wie in der EU-Agrarpolitik.
Martin Selmayr und Paul Schmidt absolvieren eine EU-Gipfeltour in allen Bundesländern, um über Europa ins Gespräch zu kommen. absolvieren eine EU-Gipfeltour in allen Bundesländern, um über Europa ins Gespräch zu kommen.
Am 6. Juni gehen sie gemeinsam mit Expertinnen und Experten bei einer Wanderung auf den Kärntner Dobratsch der Frage nach, wie viel Öko es in der Landwirtschaft braucht. Bürgerinnen und Bürger sind herzlich eingeladen, mitzukommen und mitzudiskutieren. Infos zu Treffpunkt und Anmeldung finden Sie hier.