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"Keiner darf den Paten herausfordern"

Von Boris Reitschuster

Politik
Konspiratives Treffen im idyllischen Oberbayern: die beiden russischen Ex-Vizeregierungschefs und Putin-Kritiker Alfred Koch und Boris Nemzow.
© Nicolas Sysuev

Russischer Ex-Vizepremier Alfred Koch erzählt, warum Nemzow ermordet wurde.


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München."Ich habe Angst, dass ich der Nächste bin!" - Putin-Gegner Alfred Koch fürchtet um sein Leben. Der Russlanddeutsche war früher Vize-Premier von Russland, Boris Nemzow war sein bester Freund. Vom Exil am Chiemsee aus versucht Koch, die Opposition in Moskau zu bündeln. Im Herbst organisierte er ein Treffen der bekanntesten Putin-Gegner in Oberbayern. Es sollte geheim bleiben. Doch jetzt will Koch nicht mehr schweigen. "Chodorkowskij war da, Nemzow, Bendukidse, viele frühere Regierungsmitglieder, die ich nicht beim Namen nennen will, weil sie in Russland leben, ich will sie nicht gefährden." Ziel des dreitätigen Geheimtreffens in einem malerischen Dorf: einen Weg finden, um Putins Macht zu brechen. Die Diskussionen gingen bis in die Nacht; sie wanderten gemeinsam durch die Berge - und sprachen immer über Putin, über die Zeit nach ihm. Teilnehmer Bendukidse, Ex-Minister in Georgien und Putin-Feind, hatte große Pläne, sollte in Kiew eine führende Rolle übernommen. "Wenige Wochen nach dem Treffen war er tot. Angeblich das Herz", klagt Koch: "Ich fürchte, er und Nemzow waren nicht die Letzten aus der Runde, die gestorben sind."

Mit Nemzow hat Koch noch am Tag vor dem Mord telefoniert: "Er sagte mir, dass er Angst um sein Leben hat." Koch will weiterkämpfen: "Ich werde weiter sagen, was ich denke. Auch wenn es mir das Leben kostet." Der Mann, der Putin aus gemeinsamen Petersburger Zeiten gut kennt, packt aus: "Hinter dem Mord steckt eine Logik, die man im Westen nicht versteht. Die Leute im Kreml leben in einer anderen Welt." Nemzow nannte Putin einen Dieb, sprach von einer "kriminellen Bande" im Kreml, die Russland ausraubt. Und dann kam der Tabubruch, im Eifer des Gefechts: "Er redete sich in Rage, und da rutsche ihm vor der Kamera dieses Wort raus, dass Putin gefickt ist." Nemzow war selbst erschrocken. Er versteckte sich in Israel, aus Angst vor Strafverfolgung, wie Koch jetzt enthüllt. Nemzow habe sich gewundert, dass es keine Anklage gab. Kehrte zurück. "Jetzt ist klar, warum ihn die Justiz in Ruhe ließ. Die Rache erfolgte anders", glaubt Koch: "Das ist ganz in der Tradition des KGB. Der funktioniert wie die Mafia. Da darf auch keiner den Paten offen herausfordern. Wenn so was ungestraft bleibt, ist es gefährlich für das System. Dann hätten seine Männer die Achtung vor Putin verloren. Es ist ein System der Angst."

Für Koch ist eindeutig, dass es kein normaler Mord war: Die Täter haben alles anders gemacht, als es gewöhnliche Kriminelle machen würden: Die würden sich etwa nie einen der bestüberwachten Orte der Welt als Tatort auswählen, wo unzählige Videokameras jeden Zentimeter überwachen, meint Koch. Die Täter hätten zudem wissen müssen, dass Nemzow als führender Putin-Gegner vom Geheimdienst beschattet wird - ein enormes zusätzliches Risiko für ein Killerkommando, das zudem ja seinerseits das Opfer schon weit vor der Tat ins Visier nehmen und verfolgen muss. Das Auto, mit dem der Mörder flüchtete, hatte laut Zeugenberichten keine Nummernschilder - und das in einer Hochsicherheits-Gegend. Auch dass die Überwachungskameras laut Presseinformationen just zum Zeitpunkt der Tat zur Routinekontrolle ausgeschaltet waren, ist nach Ansicht des früheren Vize-Premiers kein Zufall. Das Ziel des Mordes ist für Koch deshalb eindeutig: "Es geht darum, die Opposition einzuschüchtern." Zu seiner Angst bekennt er sich offen: "Mut besteht nicht darin, keine Furcht zu haben. Keine Angst haben nur Idioten."

Der einzige Putin-Gegner mit Parlamentsmandat

Obwohl Nemzow zum Zeitpunkt der Tat als Politiker nur marginale Bedeutung hatte - auch in Folge der Unterdrückung der Opposition - hält es Koch für möglich, dass die Machthaber Angst vor ihm hatten. Als Abgeordneter des Regionalparlaments von Jaroslawl war Nemzow der einzige prominente Putin-Gegner mit einem Mandat. Und als solcher hätte er ohne weitere Hürden an den nächsten Duma-Wahlen teilnehmen können: "Heute werden die Oppositionellen immer von den Wahlen ausgeschlossen, indem man sagt, die Unterstützerunterschriften, die das Gesetz vorsieht, seien gefälscht. Als Abgeordneter hätte Nemzow auch ohne diese Unterschriften automatisch kandidieren können." Da er vor Ort sehr beliebt sei, wären seine Chancen auf ein Duma-Mandat hoch gewesen. "Und als Duma-Kandidat hätte er Putin bei den Präsidentschaftswahlen herausfordern können; wenn die Wirtschaftskrise und die allgemeine Lage im Land sich bis dahin weiter zuspitzt, hätte er Putin da durchaus die Show verderben können", glaubt Koch, obwohl Nemzow, vor allem infolge der massiven Propaganda, die ihn als "US-Spion" und "Verräter" verunglimpfte, zuletzt nur minimale Popularitätswert hatte.

"Boris war ein absolut ehrlicher Mensch", erzählt Koch: "Er nahm keine Bestechungsgelder - heute eine Ausnahme in der russischen Politik." Nemzow lebte am Schluss sehr bescheiden, so sein Freund. Er fuhr mit der Metro. Im Urlaub stieg er in einfachen Hotels ab. "Für seine Wohnung haben ich und Freunde ihm einen Kredit gegeben, den er in Raten zurückzahlte", erzählt Koch. Entgegen anderslautenden Berichten hatte er keine Leibwächter. Er sagte: "Wenn jemand den Auftrag gibt mich zu töten, kann mich niemand davor schützen - auch kein Leibwächter."

Boris Reitschuster ist Journalist und Autor von "Putins Demokratur".