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"Keiner passte auf mich auf"

Von Kerstin Kellermann

Wissen
Esther El Ko: "Fluchtpunkt E. Vom Pixel zur Bildgeschichte" Tintendruck-Technik auf Papier, Serie bei SoHo in Ottakring.
© © Beste Erener

Viele ältere Menschen, die eine Scheu davor haben, sich mit den Problemen der Migration zu beschäftigen, haben als heimatvertriebene Kinder traumatische Erfahrungen gemacht. | Eine Recherche im eigenen Familienkreis.


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Viele Menschen der Generation, die im Zweiten Weltkrieg Kinder waren, kennen die Bezeichnung "Flüchtling" aus eigener Erfahrung. Auch wenn damals mit diesem Ausdruck ganz andere Bedrohungen als für Holocaust-Überlebende oder heutige Flüchtlinge verbunden waren, asoziieren sie den Status eines "Flüchtlings" weiterhin mit Hilflosigkeit und Schwäche. Wer will schon klein und ohnmächtig sein?

Mein Onkel, der alte Psychiater, weigert sich in das geschlossene Flüchtlingslager in seiner Stadt zu gehen, in dem die Flüchtlinge gerade wegen der schlechten Qualität der Lebensmittelpakete im Hungerstreik sind. Ich hatte mir gewünscht, dass er persönlich nachschauen geht, was innerhalb des umzäunten Areals vor sich geht. "Bitte vergiss‘ nicht", schreibt er mir, "wir sind Menschen und keine Engel. Wir leben nicht im Paradies." Seine Spielergruppe für Glücksspielsüchtige trifft er aber nach wie vor. Mein Onkel war der Erste, der zu den Zusammenhängen von Männlichkeitskonzepten und Spielsucht bei den jungen Migranten der Zweiten Generation publizierte.

"Zu alt und kaputt"

Als ich ein Kind war, nahm er mich auf die Kinder-Psychiatrie mit, wo ein Mädchen lebte, das immer wieder unter der Treppe nachsah, ob sich dort nicht ein Monster, ein schwarzer Schatten versteckt hätte. "Ich bin zu alt und kaputt, um zu den Flüchtlingen zu gehen", sagt mein Onkel am Telefon, "und die Situation der Flüchtlinge erinnert mich immer an das Konzept von Tragödie und Katharsis in den Theaterstücken der alten Griechen. Die müssen erschüttert nach Hause gehen."

Mein Onkel, der alte Psychiater, und ich hatten im Sigmund Freud-Shop für den Geburtstag meines Vaters kichernd ein großes schwarzes T-Shirt ausgesucht. "Analyse me!", stand darauf. "Ich will nicht analysiert werden!", rief mein Vater, der selbst sehr gerne und flott andere Menschen und Situationen analysiert, als ich ihm in einem Kärntner Dorfgasthaus das Präsent überreichte. Spätere Nachfragen ergaben, dass sich das T-Shirt in der Schmutzwäsche befinde, dann war es plötzlich verschwunden.

Mein Vater musste als kleines Kind ab drei Jahren im Krieg in einem Kinderheim an der Ostsee leben - später auch seine zweijährige Schwester. Sie versuchte mehrmals erfolglos aus dem Kinderheim auszubrechen. "Man durfte in der Nacht nicht aufs Klo und sie machte zwischen die Betten auf den Boden. Dafür wurde sie dann geschlagen. Das war damals so", erzählt mein Vater am Telefon, der seine Schwester nicht beschützen konnte. Die Kleine rannte mehrmals davon, flüchtete immer wieder. "Wohin?", frage ich. "Richtung Osten", lacht mein Vater spontan. "Aber bis heute habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht, wohin sie wollte."

Als das Heim mit allen Kindern gegen Ende des Krieges evakuiert wird, werden sie auf der Landstraße auf dem Weg zum Schnellboot von Tieffliegern angegriffen. Das Schnellboot verlässt die Küste in Richtung Dänemark. "Das schaukelte so und mir war schlecht. Ich habe dann über die Reling gekotzt und bin fast ins Meer gefallen. Da hat keiner auf mich aufgepasst."

Seine aus dem Heim flüchtende Schwester, später eine Krankenschwester, brachte sich mit achtundzwanzig Jahren um und ließ ihr Baby zurück. Als Mädchen weigerte sie sich, auf der Flucht den Rucksack mit den hölzernen Zirkusfiguren meines Vaters zu tragen, was er heute noch bedauert.

"Ich weiß nicht, warum du dich in letzter Zeit so der Trauer verschreibst. Nur ihr in Österreich denkt, man sollte die Vergangenheit aufarbeiten", tönt mein Onkel aus dem Hörer. "Ihr habt einen Sigmund Freud-Komplex." "Was soll man denn sonst mit schlimmen Ereignissen machen?" frage ich. "Verdrängen!", ruft er. "Ab vierzig Jahren kann man sich eh nicht mehr ändern und muss mit seinen Macken leben."

Mein Onkel verbrachte den Krieg in einem Kinderlager, aber der Zehnjährige machte sich alleine zu Fuß auf den Weg und suchte seinen Vater, der als Arzt in der Stadt tätig war. "Alles war dunkel, es war Fliegeralarm und ich ging durch die Straßen, in denen in der Mitte der Bombenschutt gestapelt war. Es war unheimlich und völlig finster, niemand war unterwegs." Mein Onkel sah, wie die Synagoge brannte. Er schlief auf den Stufen vor der geschlossenen Ordination ein.

Reise in die Kindheit

Gemeinsam verbrachten wir jetzt alle drei einen langen Tag in dieser Stadt aus der Vergangenheit. Mein Onkel humpelnd mit Stock, dicker Brille und Hörapparat - aber elegant im hellen Mantel. Mein Vater redete wie ein Wasserfall. Wir liefen hinter meinem Vater her, der kreuz und quer durch die Straßen rannte. Er war niemals zurückgekehrt und wollte auch diesmal eigentlich nicht. Über Monate rief er mich immer wieder an: "Willst du wirklich noch fahren? Warum eigentlich?"

An der Grenze hatte er vor den polnischen Grenzbeamten, mich breit anlächelnd, minutenlang so getan, als ob er seinen Reisepass nicht finden könne. "Oh Gott", dachte ich. "Er wird mich doch nicht alleine fahren lassen."

"Flüchtlingskind", schimpfte ihn meine Mutter, deren Vater immerhin der Direktor der "Rhein-Main Papier" und deren Opa mütterlicherseits Verlags-Lektor gewesen war und hebräisch sprach, wenn sie auf seine Armut an Geborgenheit als Kind, seine Unabhängigkeit und emotionale Einsamkeit verweisen wollte. Sie selbst war im Krieg mit ihrer Mutter, einer Schneiderin, von Bauernhof zu Bauernhof gezogen, um Lebensmittel für Flickarbeiten zu erhalten. "Wir lebten mit ausgesiedelten Flüchtlings-Familien im Haus des Bürgermeisters, die nannte man damals ebenfalls Flüchtlinge." Meine Mutter lag aber auch monatelang mit Typhus im Krankenhaus in der Stadt. Wenn Fliegerangriffe kamen, sperrte man sie und ihren Bruder alleine oben in dem Krankenzimmer ein, während sich die Ärzte und Krankenschwestern in den Luftschutzkeller retteten. Sie sollten niemanden anstecken. Ihr kleiner Bruder malte mit seinen eigenen Exkrementen die Wände voll. Meine vierjährige Mutter beobachtete aus dem Fenster die Lichtspiele der Bomber.

Das lange Schweigen

"Nach dem Typhus musste die Mami jeden Tag mit mir zur Behandlung", erzählt der kleine Bruder jetzt anlässlich der Familien-Feier zu seinem 70. Geburtstag. "Sie fuhr mich mit dem Fahrrad quer durch die Stadt. Wenn Tiefflieger-Angriffe kamen, versteckten wir uns hinter einem Gebüsch und warteten. Gott sei Dank habe ich dich da noch gestillt, sagte die Mami später, sonst wärst du mir verhungert."

Dieser Onkel sagt, dass damals auch von "Flüchtlings-Trecks" die Rede war. Bei einer Auto-Rundfahrt durch seine Kleinstadt zeigt er uns als Attraktion die zwei verwahrlosten Hochhäuser, in denen heutige Flüchtlinge untergebracht sind: "Dort ist es so gefährlich, dass sich nicht einmal die Polizei hintraut. Steht zumindest in der Zeitung."

"Als ich ein Kind war", erzählt mein Onkel, der alte Psychiater, am Telefon, "suchte ich im Krankenhaus meine kleine Schwester, die erst eineinhalb Jahre alt war. Ich konnte sie nicht finden. Das kleine Püppchen war gestorben. Diese unheimliche Atmosphäre spürte ich später bei den Bildern von Edward Hopper wieder." "Warum warst du da alleine?", frage ich. "Wo waren deine Eltern? Was war passiert?" Mein Onkel antwortet nicht. Das jahrzehntelange Schweigen hat meiner Familie nicht gut getan. Ein Todschweigen des Todes durch die Leute, die im Zweiten Weltkrieg Kinder waren. Als ich ihn Monate später nach mehreren erfolglosen Versuchen endlich erreichen kann, preist der "alte Fluchtjunge" wieder das Verdrängen als Methode für ein glückliches Leben.

"Nach den Kriegen vor dem Zweiten Weltkrieg konnten die Menschen die Ereignisse besser in ihr Leben integrieren", glaubt er, "heute kommen deutsche Soldaten aus Afghanistan zurück und sind traumatisiert, obwohl es therapeutische Hilfe gibt."

Erstaunlicherweise hinterfragte mein Vater mein Engagement für Flüchtlinge nie - in über zehn Jahren keine einzige Bemerkung dazu. Erst jetzt mit über siebzig Jahren rückte er durch professionelle Interview-Methoden mit seinen Erinnerungen an die Jahre im Kinderheim heraus. Schließlich will er sich nie wieder so hilflos und ohnmächtig fühlen wie als Kind, vermeintliche "Schwächen" zugeben.

Als ich aber im Auftrag einer Tageszeitung als erste Journalistin die aus der "Sonderstelle für straffällig gewordene Asylwerber" von der Kärntner Saualm geflüchteten Flüchtlinge interviewe, ist es die Mutter, die mit laufendem Motor in ihrem Skoda vor der Pension in Krumpendorf wartet. Falls die sechzehn männlichen Flüchtlinge so gefährlich sind, wie der Kärntner Landeshauptmann Dörfler behauptet - und ich als Verfolgte aus der Pension heraus gelaufen komme und wir schleunigst flüchten müssen.

"Aber nicht, dass man glaubt, dass ich eine Rassistin bin, weil ich deinen Vater ‚Flüchtlingskind‘ schimpfte! Schließlich habe ich ja ein Flüchtlingskind geheiratet", kommentiert die Mutter, als sie von meinem Text erfährt. "Hallo Freudchen. Als literarischer Banause fühle ich mich geehrt, dass du mich als literarische Figur missbrauchst", schreibt mir der Onkel. "Aber das im ersten Satz angekündigte Thema (Flüchtlinge früher und jetzt? Verdrängung als Problembewältigung? Flüchtlingsstatus aus anderer Perspektive? Kritik am staatlichen bzw. mitmenschlichen Umgang mit Asylsuchenden?) geht ein bisschen verloren oder wird zumindest mir nicht klar."

"Wieso weiß ich das nicht, dass deine Mutter Typhus hatte? Ich war mit dieser Frau immerhin Jahrzehnte lang verheiratet", fragt mich der Vater am Telefon und kritisiert den Text in Grund und Boden. "Schade, dass dir der Text nicht gefällt", sage ich, "denn eigentlich sollte der Text ja ein Geschenk an euch sein und eine Würdigung, dass ihr eine schwierige Kindheit hattet".

"Das ist aber der schlechteste Text aus deiner Feder, den ich je gelesen habe!", meint mein Vater. "Ich warne davor, diesen Text so zu veröffentlichen. Der könnte missverstanden werden. Die Leute könnten ja glauben, dass deine literarische Figur etwas mit mir zu tun hätte."

Flüchtlings-Tsunami

"Europa hat Angst vor einem Flüchtlings-Ansturm, vor einem Flüchtlings-Tsunami, wenn Ghaddafi die Grenzen aufmacht", sagte ein Herr Stürmer im ORF-Europastudio an einem Sonntag. Der Berliner Publizist, der über siebzig Jahre alt ist, wurde im "Historikerstreit" vom Philosophen Jürgen Habermas angegriffen - umstrittenes Thema war die deutsche nationale Identität nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg. Auch er dürfte ein "Flüchtlingskind" gewesen sein, das nun aus eigenen schlechten Erfahrungen und unverarbeiteten Erinnerungen heraus mit den heutigen Flüchtlingen lieber nichts zu tun haben will.

Kerstin Kellermann ist freie Journalistin in Wien, seit 2003 ständige Reporterin des "Augustin". Sie ist Redakteurin der art in migration/SOHO IN OTTAKRING, und hat mit Birgit Haehnel zusammen 2012 die Ausstellung "Fluchtlinien" kuratiert.