Im Südosten der Türkei sind hunderttausende Menschen auf der Flucht vor Gefechten.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Keller des Grauens" werden sie genannt. Jene Räume, in denen die Menschen auf ihrer Flucht vor den Heckenschützen und vor dem Beschuss mit Mörsern Schutz gesucht hatten und aus denen sie Tage später tot geborgen wurden. Unter den Trümmern waren sie erstickt, verbrannt oder in Stücke gerissen worden. Es waren 177 Frauen, Männer und Kinder, und nicht alle konnten später identifiziert werden. Die Stadt befand sich zu diesem Zeitpunkt seit eineinhalb Monaten im Belagerungszustand, eine Ausgangssperre war verhängt, und in den Straßen lieferten sich Soldaten und offiziell als Terroristen eingestufte kurdische Rebellen Gefechte. Die in den Kellern dreier Gebäude verschanzten Menschen überlebten das nicht. In den darauf folgenden Wochen starben dutzende weitere Zivilisten - beim Versuch, Wasser zu holen, durch verirrte Kugeln in der eigenen Küche oder weil der Krankenwagen nicht rechtzeitig zu den Verletzten durchkam.
All das passierte nicht in Syrien oder im Irak, auch wenn die beiden vom Krieg erschütterten Länder nicht weit von dort entfernt sind. Es geht um Cizre, eine Stadt im Südosten der Türkei. Diese ist EU-Beitrittskandidatin und soll von der Union bald Visafreiheit für ihre Bürger erhalten. Auf der Suche nach Lösungen in der Flüchtlingskrise wandten sich die Europäer an die Türken und waren für deren Hilfe zu weitreichenden Zugeständnissen bereit.
Was in Cizre geschah, während in Brüssel, Berlin und Ankara über das Abkommen verhandelt wurde, dokumentiert der "Cizre-Bericht" der pro-kurdischen Partei HDP. Anhand von Zeugenberichten und eigener Beobachtungen zeichnen die Autoren nach, wie das Leben und Sterben im Belagerungszustand war, wie ganze Stadtviertel zerstört wurden, wie rücksichtslos die Kämpfe geführt wurden. Von rassistischen und sexistischen Übergriffen ist ebenfalls die Rede. Die Vereinten Nationen fordern nun eine internationale Untersuchung.
Der Vorwurf steht im Raum, dass die türkische Armee und Paramilitärs nicht bloß gegen die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und deren Splittergruppen vorgehen, sondern ebenso die kurdische Bevölkerung systematisch einschüchtern und demütigen wollten. Auch in anderen Städten, wo sie sich Scharmützel mit Kurden lieferten. Hunderte Zivilisten kamen dabei um; mehr als 350.000 Menschen wurden vertrieben.
Hinzu kommt: Akademiker, Journalisten und Oppositionelle, die staatliche Gewalt anprangern, können als Sympathisanten einer Terrororganisation angeklagt werden. HDP-Politikern droht dasselbe, was noch einfacher wird, wenn den Abgeordneten die Immunität entzogen wird.
Vor drei Jahren sorgte die Polizeibrutalität bei den Bürgerprotesten im Istanbuler Gezi-Park für wochenlange Empörung vor allem in westeuropäischen Medien. Heuer wurde weit mehr über das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei berichtet denn über die Ereignisse in Cizre, Silopi oder Diyarbakir. Dabei sprechen sich schon kurdische Aktivisten im Ausland gegen die Visafreiheit aus. Die Ausreise zahlreicher Kurden, aber auch von Regierungskritikern könnte die Folge sein. Das wiederum könnte so manchem türkischen Nationalisten nur recht sein.