Vor 55 Jahren wurde John F. Kennedy ermordet. Ein Rückblick auf ein unvollendetes Leben.
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Es gibt Tage im Leben, an die man sich auch noch Jahrzehnte später so erinnert, als ob es gestern gewesen wäre. Für mich war der 22. November 1963 so ein Tag. Ich war damals Student in Göttingen. An jenem Freitag ging ich wie üblich nach der Vorlesung mit einigen Freunden in unsere Studentenkneipe - zur Vorbereitung auf das Wochenende. Diesmal war alles anders. Als wir die Kneipe betraten, herrschte dort eine merkwürdige Stille. Einer meinte: "Kennedy ist ermordet worden." Es war kurz nach 20:00 Uhr. Um 13:00 Uhr texanischer Zeit war John F. Kennedy offiziell für tot erklärt worden.
Wir studierten zwar Geschichte, kannten Kennedy aber nur aus der Wochenschau oder aus dem Fernsehen, Amerika war weit weg. Irgendwie fühlten wir uns trotzdem von seinem schrecklichen Tod mitbetroffen.
Wer war John F. Kennedy?
Er wurde am 29. Mai 1917 in Brookline, Massachusetts, geboren und verbrachte eine unbeschwerte Jugend als Sohn des mehrfachen Millionärs Joseph Kennedy. Der hatte sein Vermögen durch Börsenspekulationen und zahlreiche andere, teilweise zweifelhafte Geschäfte erworben, unterstützte Franklin D. Roosevelt im Wahlkampf und wurde dafür mit dem Botschafterposten in London belohnt (1937-1940). An einer Stelle bekannte John F. Kennedy einmal, er habe von der Depression in den dreißiger Jahren in Amerika nichts mitbekommen.
Seit dem 20. Jänner 1961 war JFK der 35. US-Präsident und mit 43 Jahren der jüngste in dieses Amt gewählte Politiker (und der erste Katholik). Mit ihm und seiner Frau Jacqueline schien ein neues Zeitalter angebrochen zu sein. Nach außen strotzend vor Jugend und Gesundheit, war Kennedy tatsächlich ein schwer kranker Mann, was wir allerdings erst seit 2002 wissen, nachdem die Kennedy-Familie seine Krankenakten freigegeben hat, offensichtlich um zu zeigen, was dieser Mann trotz seiner Krankheit geleistet hat.
Kennedy litt an der Addisonschen Krankheit, einer Fehlfunktion der Nebennierenrinde, war oft im Krankenhaus, erhielt mehrmals die letzte Ölung; er musste wegen seiner Rückenprobleme - Folgen einer Kriegsverletzung - täglich zwei Stunden schwimmen und heiße Bäder nehmen, trug ein Stützkorsett und schlief auf einer harten Matratze, in Hotels manchmal sogar auf dem Boden. Er nahm täglich Pillen gegen seine Schmerzen, u.a. Kortison und eine Mixtur aus Amphetaminen, die ihn geradezu drogenabhängig machte.
Verabreicht wurde ihm die "Arznei" von dem deutschstämmigen Arzt Max Jacobson, der im Weißen Haus nur "Dr. Feelgood" genannt wurde. Kennedy war das offenkundig egal. Er sagte einmal, selbst wenn es Pferdepisse wäre, würde er es nehmen, Hauptsache es würde helfen, seine Schmerzen zu lindern. Der amerikanische Kennedy-Biograf Robert Dallek meinte in einer Fernsehsendung im Jahr 2012: "Hätte die Nation gewusst, wie krank John F. Kennedy wirklich war, wäre er nie Präsident geworden."
Kennedy befürchtete zeit seines Lebens, dass er früh sterben werde. Möglicherweise war das mit ein Grund für seine zahllosen Affären, u.a. mit Marilyn Monroe - und sogar mit Frauen, die mit der Mafia liiert waren. Überliefert ist eine Äußerung von ihm zum britischen Premierminister Harold Macmillan, er müsse mindestens alle drei Tage mit einer anderen Frau schlafen, sonst würde er starke Kopfschmerzen bekommen. Die Reaktion Macmillans ist nicht bekannt.
Fünfmal in Deutschland
Kennedy war mit den zwei gefährlichsten Krisen des Kalten Krieges konfrontiert: Berlin und Kuba. Beide konnte er zwar ohne Krieg lösen, unbestritten ist allerdings, dass mit ihm das Vietnamdesaster begann. Bei Amtsantritt 1961 gab es 800 amerikanische sogenannte "Berater" in Südvietnam, bei seinem Tod im November 1963 waren es 16.000.
In der Innenpolitik fokussierte er die Nation in der Weltraumfahrt auf den Flug zum Mond, in der Bürgerrechtsbewegung leitete er Reformen ein, deren Realisierung er allerdings genausowenig wie die Landung auf dem Mond erlebte.
Was viele nicht wissen: Kennedy hat Deutschland insgesamt fünfmal besucht. Zuerst im Jahre 1937 als 20-jähriger Harvard-Student, gemeinsam mit seinem Freund Lem Billings. Von Venedig aus fuhren die beiden am 16. August 1937 über Bozen und den Brenner nach Innsbruck. Kennedy schrieb von Anfang an Tagebuch - das erst 1995 veröffentlicht wurde. Damals notierte er:
"Die Österreicher beeindruckten uns sehr, weil sie so ganz anders waren als die Italiener. Übernachtung in Innsbruck in einer Jugendherberge - sehr zum Missfallen von ‚Her Ladyship‘ (so nannten sie die Anhalterin, die sie mitgenommen hatten, Anm.). Mit 40 anderen in einer Kammer zu schlafen war alles andere als angenehm, und es gilt als Schande, ein Bad zu nehmen."
Von Innsbruck ging es nach Garmisch, Oberammergau, München, Nürnberg, Frankfurt und Köln. Kennedy notierte: "Die Deutschen sind wirklich zu gut - deshalb rottet man sich gegen sie zusammen, um sich zu schützen."
"Arrogante Rasse"
Insgesamt aber gewannen die beiden keinen besonders guten Eindruck von den Deutschen. Johns Freund meinte: "Sie sind arrogant; die ganze Rasse ist arrogant, sie fühlen sich allen überlegen und zeigen das auch, sie sind unerträglich. Wir haben schlimme Erfahrungen mit ihnen gemacht". Um die Nazis mit ihrem "Heil Hitler"-Gehabe lächerlich zu machen, antworteten sie jedesmal mit "Hi ya Hitler". Die Jugendherbergen waren, wie Kennedy später meinte, voller "arroganter, übel riechender Deutscher". Dennoch, so Billings später, war Kennedy damals von Hitler und der Hitlerjugend fasziniert.
Die nächste Europareise machte Kennedy 1939. Begleitet wurde er diesmal von einem Kommilitonen aus Harvard. Von März bis August besuchten sie fast alle wichtigen Städte in Europa und im Nahen Osten. Im Juli waren sie in München, wo sie von SA-Mitgliedern angepöbelt wurden, als diese das Auto mit britischem Kennzeichen bemerkten.
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Von München fuhren sie nach Berlin und von da nach Südfrankreich, wo Kennedys Mutter ein Ferienhaus gemietet hatte. Mitte August waren sie wieder in München und besuchten dort eine Aufführung des "Tannhäuser". Von dort ging es weiter nach Wien und Prag und wieder nach Berlin. Man übernachtete im "Hotel Adlon". Am 4. September waren sie im Unterhaus in London und wurden Zeuge der Kriegserklärung von Premierminister Neville Chamberlain.
1945 war Kennedy wieder in Deutschland. Er begleitete Marineminister James Forrestal auf dessen Informationstour. Forrestal war Banker und ein enger Freund der Familie; er wurde wenig später Verteidigungsminister. Am 28. Juli landeten sie auf dem Flughafen Berlin-Gatow; von dort fuhren sie zur Potsdamer Konferenz, wo Forrestal Präsident Truman traf. In Berlin war Kennedy überwältigt vom Grad der Zerstörung und vom süßlichen Gestank der in manchen Straßen herumliegenden Leichen, wie er notierte.
Anschließend besuchten die beiden Bremen und Bremerhaven, von wo es nach Frankfurt am Main zum Treffen mit General Eisenhower ging. Dann folgte am 1. August der für Amerikaner damals fast schon obligatorische Besuch von Hitlers zerstörtem "Berghof" auf dem Obersalzberg und das Kehlsteinhaus. Im Gegensatz zum Berghof hatte "Eagle’s Nest", wie die Amerikaner Martin Bormanns Geburtstagsgeschenk zu Hitlers 50. Geburtstag nannten (und nennen), die Luftangriffe im April 1945 unbeschadet überstanden. Kennedy notierte: "Nach diesem Besuch kann man leicht verstehen, dass Hitler in wenigen Jahren, wenn der momentane Hass auf ihn vergangen ist, zu einer der ganz überragenden Personen aufsteigen wird." Sein Tagebuch endet mit dem Eintrag: "Hitler hat das Zeug zur Legende gehabt." Ein Eintrag, der verwundert angesichts der Tatsache, dass wenige Wochen zuvor die Amerikaner die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Mauthausen befreit hatten - und die KZs damals das Thema in den Medien waren.
Obwohl Kennedy Deutschland also ganz gut kannte - in jedem Fall besser als jeder andere US-Präsident -, war er kein besonderer Freund der Deutschen, oder vielleicht gerade deshalb. In dem von den Deutschen entfesselten Krieg war sein Bruder ums Leben gekommen, was er nicht vergeben und nicht vergessen konnte.
Als Präsident nervten ihn die Deutschen - allen voran Bundeskanzler Adenauer - mit ihrem ständigen Misstrauen mit Blick auf die Bündnistreue der USA.
Berlin und Kuba
Kennedy wollte nichts von einer Wiedervereinigung wissen. Gleich nach seinem Amtsantritt wurde im Weißen Haus entschieden, den Begriff "deutsche Wiedervereinigung" nicht länger in Papieren für ihn zu erwähnen; stattdessen hieß es jetzt "Selbstbestimmung".
An ein Nachgeben in der Berlinkrise dachte er allerdings genauso wenig wie sein Vorgänger Eisenhower. Der amerikanische Botschafter in Moskau, Thompson, machte das Sowjetführer Chruschtschow am 24. Mai 1961 in Moskau unmissverständlich klar: "Wir werden auf Gewalt mit Gewalt reagieren."
Wenige Tage später trafChruschtschow Kennedy in Wien. Nach diesem Treffen am 3. und 4. Juni hielt er Kennedy noch für ein politisches Leichtgewicht. Das änderte sich schlagartig am 25. Juli, als Kennedy in einer "Rede an die Nation" das bis dahin größte Aufrüstungsprogramm der USA ankündigte.
Am Ende wurde "nur" die Mauer gebaut, das "Maximum dessen, was aus West-Berlin herauszuholen war", wie Chruschtschow am 6. Februar 1962 SED-Chef Ulbricht klarmachte. Für die DDR-Bewohner wurde mit der Mauer zwar das letzte Schlupfloch für ihre Flucht in den Westen geschlossen, an den Rechten der Westmächte in Berlin änderte sich damit allerdings zur Enttäuschung Ulbrichts nichts.
Und dann kam im Oktober 1962 die Kubakrise mit sowjetischen Atomraketen auf der Insel. Die amerikanischen Stabschefs wollten von Anfang an die Inva- sion. Sie warteten nur auf den Befehl des Präsidenten. Der aber zögerte diese Entscheidung lange hinaus. Er misstraute den Militärs, die ihn im April 1961 ohne Vorwarnung in die gescheiterte Schweinebucht-Invasion in Kuba hatten laufen lassen. Und sie konnten nicht garantieren, beim ersten Angriff sämtliche Raketenbasen zu zerstören.
Der 27. Oktober 1962 ist als der "schwarze Samstag" in die Geschichte der Kubakrise eingegangen und hätte in der Tat zum schwärzesten Tag in der Geschichte der Menschheit werden können: Eine amerikanische U-2 wurde über Kuba abgeschossen und der Pilot getötet. Eine andere U-2 kam über Alaska vom Kurs ab und geriet in den sowjetischen Luftraum. Mit Atomwaffen bestückte sowjetische MiG-Abfangjäger stiegen auf, während US-Verteidigungsminister McNamara schrie: "Dies bedeutet Krieg mit Russland." Und Kennedy meinte: "Irgendein Idiot muss immer alles vermasseln."
Das Glück war auf Seiten des U-2-Piloten: Das Benzin ging zwar aus, aber er konnte in den amerikanischen Luftraum zurückgleiten: die MiG hatten ihn in 33 Kilometern Höhe nicht erreichen können. Was niemand von Kennedys Beratern wusste: Gleichzeitig waren amerikanische, mit Atomwaffen bestückte Maschinen in Richtung U-2 aufgestiegen und deren Piloten hatten Befehlsgewalt, ihre Atomraketen abzufeuern. Entscheidend aber war der Abschuss der U-2 auf Kuba. Es fiel der Satz: "Die Sowjets haben den ersten Schuss abgefeuert." Die Stabschefs forderten von Kennedy grünes Licht für den Angriff, falls die Raketen nicht vorher abgezogen würden. Kennedy widersprach nicht. Bei einem Nein drohte ein Absetzungsverfahren ("impeachment"). Am Montag würde der Angriff auf Kuba beginnen.
Wäre es dazu gekommen, hätte das mit ziemlicher Sicherheit zum Atomkrieg geführt. Warum? Die Militärs wussten einiges nicht - und was wir auch erst seit 1992 bzw. 2008 wissen: Die vier sowjetischen U-Boote, die sich in Richtung Kuba bewegten und von US-Zerstörern verfolgt wurden, hatten je einen Nukleartorpedo an Bord. Als ein Zerstörer Wasserbomben auf das sowjetische U-Boot B-59 warf, brach dort die Verbindung nach Moskau ab und der Kommandant ließ den Torpedo zum Abschuss vorbereiten (der dann von Offizieren an Bord verhindert wurde).
Noch wichtiger war aber Folgendes, was die Amerikaner auch nicht wussten: Es befanden sich außer den Atomraketen noch 80 Marschflugkörper mit je einem Atomsprengkopf in Hiroshimastärke auf Kuba, die bei einem amerikanischen Angriff eingesetzt worden wären. Das zumindest befürchtete Chruschtschow bei der ihm vom Geheimdienst angekündigten Invasion. Das hätte zwangsläufig zum atomaren Gegenschlag der USA geführt. Es war Chruschtschow, der daraufhin die Kubakrise beendete, auch wenn Kennedy in der Öffentlichkeit wie der strahlende Sieger aussah.
Im Juni 1963 besuchte Kennedy als Präsident die Bundesrepublik Deutschland - und für acht Stunden West-Berlin. Unvergessen die Szene dort, wo er vor 400.000 Zuhörern jenen Satz auf Deutsch sprach, der wohl immer mit ihm verbunden bleibt: "Ich bin ein Berliner!" So zumindest halten die Deutschen ihn in Erinnerung.
Fünf Monate später besuchte er Texas. Die Sicherheitsvorkehrungen waren eher unzureichend: Kennedy fuhr in einem Auto mit offenem Verdeck-Amtslimousinen mit kugelsicherem Dach gab es noch nicht. Mit Kennedy im Wagen saßen seine Frau, Gouverneur John Connally, dessen Frau Nellie Connally sowie der Fahrer William Greer und ein Leibwächter, beide vom Secret Service. Kurz bevor der Wagen in die Elm Street einbog, hatte sich die Frau von Gouverneur Connally angesichts der vielen freundlich winkenden Menschen am Straßenrand an den hinter ihr sitzenden Präsidenten gewandt und gemeint: "Mr. President, man kann nicht sagen, dass Dallas Sie nicht liebt." Kennedy hatte zugestimmt: "Nein, das kann man ganz sicher nicht sagen." Das waren seine letzten Worte.
Um 12:30 Uhr wurde er von zwei Schüssen getroffen - vielleicht drei. Sie beendeten ein "unvollendetes Leben", wie der amerikanische Historiker Dallek sein Buch über Kennedy genannt hat. Eine halbe Stunde später wurde der 35. US-Präsident offiziell für tot erklärt. Amerika fiel in Schockstarre, die Welt war entsetzt.
Keine neue Enthüllung
Unvergessen sind die Bilder, die inzwischen immer wieder im Fernsehen gezeigt worden sind: der schwer verwundete Präsident, seine Frau Jacqueline über ihn gebeugt, dann die Vereidigungszeremonie von Vizepräsident Johnson im Flugzeug, neben ihm Jacqueline Kennedy mit blutbespritztem Kostüm. Und dann später die Beerdigung. Das war ein Medienspektakel erster Ordnung, das genauso ablief wie jene von Präsident Lincoln, der 1865 ermordet worden war. Jaqueline hatte es so gewünscht.
Als Täter wurde Lee Harvey Oswald verhaftet, der zwei Tage später von dem Nachtklubbesitzer Jack Ruby vor laufenden Fernsehkameras erschossen wurde. Eine Untersuchungskommission bestätigte ein Jahr später, dass Oswald der alleinige Täter war. Also keine Verschwörung: keine Mafia, keine CIA, kein Fidel Castro? Viele bezweifeln das bis heute. Ein Großteil der Kommissionsakten war bis 2017 unter Verschluss. US-Präsident Donald Trump hat die meisten von ihnen im letzten Jahr freigegeben. Neue Enthüllungen gab es leider nicht.
Der Mythos Kennedy aber lebt fort, wie die zahllosen Besucher seiner Grabstätte mit der ewigen Flamme auf dem Heldenfriedhof Arlington in Washington mehr als deutlich machen. Dieser Mythos wird von der Kennedy-Familie sorgsam gepflegt. Unabhängig davon lohnt es sich, an diesen Präsidenten auch 55 Jahre nach seinem Tod zu erinnern - nicht zuletzt mit Blick auf den aktuellen Herrn im Weißen Haus.
O. Univ.-Prof. Rolf Steininger war von 1984 bis zu seiner Emeritierung 2010 Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. www.rolfsteininger.at
Rolf Steininger: Novembertage. Entscheidungen und Ereignisse im 20. Jahrhundert, Studienverlag, Innsbruck 2018, 180 Seiten, 21,90 Euro.