Das uralte Eis der Polargebiete ist wie ein gefrorenes Archiv, das über Umweltbelastungen und Klimaveränderungen erzählt.
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Bremerhaven. Beißende Kälte, heulende Stürme und monatelange Dunkelheit. Widerspenstige Technik, die vor den extremen Bedingungen zu kapitulieren droht, und eine nur 24 Quadratmeter große Hütte zu dritt. Als Claude Lorius 1956 bei seiner ersten Antarktis-Expedition einen Winter lang in der abgelegenen Forschungsstation Charcot verbringt, hat er sich nicht den einfachsten Start für seine Wissenschaftskarriere ausgesucht. Doch der 82-jährige Franzose schwärmt bis heute davon.
Bei 22 Expeditionen hat er mehr als zehn Jahre in den Polargebieten verbracht. Noch immer scheint der langjährige Leiter des Labors für Glaziologie und Umwelt-Geophysik in Grenoble das Eis nicht satt zu haben. Im Kinofilm "Zwischen Himmel und Eis" erzählt er, was ihn daran so fasziniert: Die Leidenschaft für die Antarktis sei wie ein Virus. Wer infiziert sei, müsse einfach immer wieder zurückkehren.
"Dieses Virus habe ich auch", sagt Heinz Miller vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Er hat sich dem Forschungsfeld verschrieben, in dem Claude Lorius Pionier ist: Als Glaziologe versucht er, das Eis der Polargebiete zum Sprechen zu bringen. Über hunderttausende Jahre hat sich in Grönland und der Antarktis eine Schneeschicht über die andere gelegt, sich zu Eis verfestigt und Gasbläschen und Schwebteilchen aus der Luft eingeschlossen. Wie in einem gefrorenen Geschichtsbuch sind hier spannende Informationen über das Klima vergangener Epochen aufgezeichnet. Um an sie heranzukommen, muss man tief in die globalen Gefriertruhen bohren. Das ist ein ebenso lohnendes wie aufwändiges Unterfangen. Heinz Miller war einer der führenden Köpfe des europäischen Tiefbohrprojekts EPICA, das von 1995 bis 2006 zwei Bohrkerne aus dem Eis gefördert hat. "So ein Vorhaben kann man nur in Zusammenarbeit stemmen", betont er. "Es dauert zehn Jahre, bis man fertig ist".
Nachweis des Treibhauseffekts
"Bei der EPICA-Bohrung im antarktischen Dronning Maud Land mussten die Mitarbeiter zuerst fünf Süd-Sommer lang das Gelände erkunden und Probebohrungen durchführen. Zwei weitere Sommer dauerte es, um eine Forschungsstation aufzubauen und die Ausrüstung heranzuschaffen. "Allein die Winde mit dem Kabel, über das der Bohrer in die Tiefe gelassen und mit Strom versorgt wird, wiegt drei Tonnen", sagt Miller. Pistenraupen mussten das Gerät von der Küste 800 Kilometer weit durch ein Gebiet mit tückischen Gletscherspalten ziehen.
Im November 2001 konnte es losgehen. Meter für Meter schnitt sich der rotierende Bohrkopf mit in den Untergrund, Eiszylinder mit zehn Zentimetern Durchmesser und drei Metern Länge kamen aus immer größeren Tiefen empor. Vier Sommer lang ging es jeden Tag ein Stück weiter in die Vergangenheit. Wenn man Glück hatte. "In einer Saison wollten wir da weitermachen, wo wir im Jahr davor aufgehört hatten", erinnert sich Miller. Doch der Bohrer kam keinen Meter voran. Eine große Messingschraube war ins Bohrloch gefallen und dort im Weg gewesen. Bei anderen Projekten blieben Bohrer im Eis stecken.
Trotz aller Widrigkeiten sind die Forscher in Dronning Maud Land 2784 Meter hinuntergestoßen und haben 170.000 bis 180.000 Jahre altes Eis zutage gefördert. Bei der zweiten Bohrung reichte das gefrorene Geschichtsbuch 800.000 Jahre zurück. Seine Seiten lesen die Forscher im heimischen Labor. Ein Eiskern kann verraten, bei welchen Temperaturen der Schnee vergangener Epochen gefallen ist. Die Information steckt in den Bestandteilen des Wassers. Von Wasserstoff und Sauerstoff gibt es je zwei unterschiedlich schwere stabile Formen, die Isotope. Eis aus warmen Zeiten enthält größere Mengen von schwereren Varianten als solches aus kalten Perioden.
Interessantes Glas Whisky
Eine weitere im Eis verborgene Botschaft perlte Claude Lorius in den 1960er Jahren ausgerechnet aus einem Glas Whiskey entgegen. Er hatte seinen Drink mit Eis aus der aktuellen Bohrung gekühlt und beobachtete fasziniert die kleinen Luftbläschen, die von den schmelzenden Brocken aufstiegen. Waren sie winzige Zeitkapseln, die Proben aus einer uralten Atmosphäre bewahrt hatten? In den folgenden Jahrzehnten beschäftigte sich der Franzose mit der Analyse der eingefrorenen Gasbläschen. Er konnte zeigen, dass hohe Konzentrationen von Kohlendioxid in der Erdgeschichte mit hohen Temperaturen gekoppelt waren. Der Treibhauseffekt ließ sich in Eiskernen nachweisen - für Lorius Grund genug, die Menschheit immer wieder vor den Folgen eines zu hohen CO2-Ausstoßes zu warnen.
Es ist nicht die einzige kritische Botschaft, die der Glaziologe von den Enden der Welt mitgebracht hat. "Es gibt keinen Ort, an dem man vor dem Einfluss des Menschen sicher ist", sagt er im Film. In den Eiskernen finden sich radioaktive Elemente aus Atomtests und Spuren anderer Umweltbelastungen. "Man sieht darin, dass die Römer bei der Metallverhüttung mehr Blei freigesetzt haben als später der Autoverkehr", berichtet Miller. Optimistisch stimmt ihn, dass sich auch der Erfolg von Umweltschutzmaßnahmen niederschlägt. Der Rückgang der Bleibelastung nach der Einführung von bleifreiem Benzin ist ebenso dokumentiert wie die sinkende Konzentration von Schwefelverbindungen durch die Rauchgasentschwefelung in Kraftwerken.
Das Eis erzählt auch Geschichten, in denen der Mensch nicht die Hauptrolle spielt. Etwa, wie die Welt in den letzten 800.000 Jahre ausgesehen hat. Enthält eine Schicht im Bohrkern besonders viele Seesalz-Partikel, ist das ein Zeichen für eine Ausdehnung des Meereises und damit für eine Kaltzeit. Mehr Staub deutet auf ein Trockenheit und mehr Wind hin. Glaziologen aus europäischen Ländern planen nun das Projekt "Beyond EPICA", das bis zu 1,5 Millionen Jahre altes Eis liefern soll, um Klimaentwicklungen besser vorhersagen zu können. Wieder eine Herausforderung für Forscher, die das Antarktis-Virus haben.