Kanzler Christian Kern auf Antrittsbesuch in Brüssel: Wirtschaft, Migration und Brexit dominieren Gespräche mit EU-Spitzen.
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Brüssel. Bundeskanzler Christian Kern sitzt am Mittwoch-Morgen in einem Gulfstream-Jet Kurs Flughafen Brüssel-Zaventem. Auf der Tagesordnung: Treffen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Außenbeauftragter Federica Mogherini. Es ist Kerns erste offizielle Auslandsreise nach der Eröffnung des Gotthard-Tunnels. Heute, Donnerstag, wird die Reise nach Berlin zu Amtskollegin Angela Merkel gehen.
Ein Thema dominiert in diesen Tagen die Gespräche in der Hauptstadt Europas: Brexit, der drohende Austritt Großbritanniens aus der EU. Doch unabhängig davon, wie das Brexit-Referendum ausgehe, die Kernfragen für die EU lauten: "Wie schaffen wir in Europa Beschäftigung? Wie gehen wir in Europa mit der Migrationskrise um? Wenn es uns nicht gelingt, zu zeigen, dass europäische Kooperation einen Mehrwert bringt, dann wird die Diskussion um Europa auch nach dem Referendum weitergehen."
Bei der Pressekonferenz im Berlaymont-Kommissionsgebäude im Herzen des Brüsseler Europaviertels wird Kern gefragt, welche Schlüsse er aus der Brexit-Debatte ziehe. Die Antwort des Bundeskanzlers: Jahrzehntelang sei es in Großbritannien verabsäumt worden, über den Nutzen der EU für Großbritannien zu sprechen. Erst in den vergangenen Wochen habe es im Zuge der "Stay"-Kampagne dazu eine intensive Debatte gegeben. Schließlich sei es gelungen, die Anti-EU-Stimmung im Land zu drehen, sodass ein Verbleib Großbritanniens am Vorabend der Abstimmung zumindest wieder denkbar erscheint. "Wir müssen uns weiter anstrengen, die pro-europäische Haltung in unseren Ländern zu verstärken. Das ist eine politische Führungsaufgabe", sagt der Bundeskanzler. EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker fügt hinzu: "Es wird mit Großbritannien keine Nachverhandlung geben. Out is out. Wer raus ist, ist raus." Juncker träumt von einer Union der Europäer - "und dazu brauchen wir die Briten in der EU."
Auswirkungen auf Österreich?
Die Frage der europäischen Sozialsysteme - die im Zuge der Brexit-Debatte in Großbritannien heftig diskutiert wurde (das Vereinigte Königreich ist besonders für Arbeitskräfte aus EU-Ost- und Südosteuropa attraktiv) - sei auch für Österreich relevant: Es gebe 180.000 Entsendungen von EU-Bürgern zum Arbeiten in Österreich. Experten sprechen davon, dass es 26.000 Arbeitslose weniger in Österreich gäbe, würden diese Menschen nicht im Land arbeiten. Die EU-Bürger würden zwar nach österreichischen Kollektivvertrag bezahlt, es gebe aber keine Handhabe zu kontrollieren, ob das tatsächlich passiert.
"Man muss zudem darüber nachdenken, dass nicht nur das Prinzip ‚gleicher Lohn am gleichen Ort‘, sondern auch ‚gleiche Sozialleistungen am gleichen Ort‘, gilt", sagt Kern. Doch die die Osteuropäer, die die Nutznießer dieses Systems seien, wollen dieses Konzept nicht mittragen - genau, wie sie auch auf der Migrations-Seite nicht bereit seien, ihren Beitrag zu leisten. Am österreichischen Arbeitsmarkt müssen zusätzlich zu den Jobs für Österreicher Jobs für EU-Bürger und nun auch Arbeitsplätze für asylberechtige Arbeitnehmer geschaffen werden. "Ich will in unserem Land keine Situation, wo sich die Lage am Arbeitsmarkt so weit zuspitzt, dass wir unsere solidarische Position überdenken müssen." Kern bringt dieses Thema wohl auch mit Blick auf den am kommenden Samstag am Wiener Messegelände stattfindenden SPÖ-Parteitag aufs Tapet - die Gewerkschaften verlangen seit langem eine Reform der EU-Entsenderichtlinie. "Wir haben in Österreich die Situation, dass wir trotz Beschäftigungswachstum mit steigender Arbeitslosigkeit konfrontiert sind. Wir erwarten europäische Solidarität."
Auf die Journalisten-Frage, ob Juncker es für mit EU-Recht vereinbar hält, Flüchtlinge zwangsweise in Asylzentren außerhalb der EU zurückzuschicken, wie das von Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP), Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) und Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) vorgeschlagen wurde, sagte Juncker pointiert: "Mit EU-Recht Ja - mit Moral nicht". Kern will eine möglichst große Zahl von Rückführungsabkommen. Und was die EU-Kritik an Obergrenzen und Grenzkontrollen betrifft? Juncker: "Ich habe deutlich gemacht, dass wir die österreichische Entscheidung, Grenzkontrollen zwischen Österreich und Slowenien einzuführen, mit dem Europarecht für nicht vereinbar halten. An dieser Sicht der Dinge hat sich nichts geändert."
Kanzler Kern spricht in Brüssel aber vor allem Wirtschaftsthemen an: Besonders am Herzen liegt ihm die Stahlproduktion in Europa. Aufgrund der Überproduktion in China sind die Stahlpreise weltweit im Keller, eine Situation, die Kern als "existenzbedrohend für die europäische Stahlindustrie" einschätzt. Die EU erhebt derzeit 14 Prozent Zoll auf chinesischen Stahl, die USA 260 Prozent. "Das führt zu einem Ausbluten der europäischen Stahlindustrie - aber nicht nur das: Es geht auch um das Überleben der europäischen Keramik-Industrie, der Aluminium- Glas- oder der Papierindustrie", sagt Kern. "Wir müssen uns überlegen, wie wir den Standort Europa stärken können, sonst kommen wir in die letale Situation, dass diese europäischen Vorzeige-Industrien eines Tages in Europa nicht mehr überleben können", so der Bundeskanzler. Die Industriequote liege in Österreich bei 20 Prozent, daher sei das für Österreich eine Existenzfrage. Juncker verwies darauf, dass die chinesische Überproduktion "exakt der europäischen Stahlproduktion entspricht". In dieser Frage gibt es also absoluten Gleichklang zwischen Wien und Brüssel. Gegen Jahresende steht die Entscheidung an, ob China von der Welthandelsorganisation (WTO) als Marktwirtschaft einzustufen sei. Ein solches Etikett durch die WTO würde Maßnahmen zum Schutz der europäischen Wirtschaft erschweren.
Die Kohlendioxidzertifikate, mit denen Europa hofft, den Ausstoß des klimaschädlichen Treibhausgases CO2 in den Griff zu bekommen, seien - so Bundeskanzler Kern - ebenfalls ein Wettbewerbsnachteil für Europas Industrie. Kern plädiert dafür, dass diejenigen, die ihre Hausaufgaben bei der CO2-Vermeidung gemacht haben, eine bevorzugte Zuteilung von Emissions-Zertifikaten bekommen. "Was soll der Sinn sein, wenn diese Industrien nach Asien abwandern, wo es überhaupt keine vergleichbaren Umweltstandards gibt?" Es gehe Kern nicht um "China-Bashing", wie der Kanzler betont, schließlich sei Peking bemüht, die eigenen Industrien umzustrukturieren: "Aber wir können nicht noch zwei, drei Jahre warten, sonst gibt es in Europa keine Industrien mehr, die man noch retten könnte."