Sanfte Kritik an Ahmadinejad und Lob für Rafsanjani. | "Kein Betrug". | Samstag als "Tag der Entscheidung"? | Teheran/Wien. Irans oberster Führer Ali Khamenei hat die Perser beim Freitagsgebet an der Universität Teheran angesichts der seit einer Woche andauernden Proteste gegen den Ausgang der Präsidentschaftswahl zur Ruhe aufgerufen. Regimegegner - allen voran der Westen - hätten Stimmung gegen die islamischen Grundsätze gemacht.
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Die rege Wahlbeteiligung nannte Khamenei als Beispiel für Demokratie und unterstrich, dass es seit 1979 keine solch große Beteiligung bei einer Wahl gegeben hätte. Einen Rüffel bekamen die Demonstranten. Demokratische Debatten seien "angemessen", sollten aber nicht in Feindseligkeiten münden. Es habe Vorwürfe gegeben, die sich nicht beweisen ließen.
Einerseits, so Khamenei weiter, sei Präsident Mahmoud Ahmadinejad beleidigt und gefälschte Dokumente seien in Umlauf gebracht worden. Andererseits habe auch der Präsident selbst unpassende Worte gegen Ex-Präsidenten Ali Hashemi-Rafsanjani gesprochen. "Ich kenne Rafsanjani. Ich möchte ihn hier und heute als einen Mann würdigen, der sein Leben für die Revolution riskiert hat. Das sollen die Jüngeren wissen. Und ja, ich habe zuvor noch nie einen Namen in meinem Freitagsgebet genannt", fuhr Khamenei fort.
Ahmadinejad sei trotz kritikwürdiger Aussagen legitimer Präsident Irans. Zu Manipulationsvorwürfen der Opposition sagte er, der Wahlmechanismus erlaube keinen Betrug. Es gebe vielleicht vereinzelt Zweifel. "Aber wie können elf Millionen Stimmen verändert werden?", fragte er. Dennoch sollten die Vorwürfe überprüft werden. An die Adresse des Wahlverlierers Moussavi gewandt sagte er, politische Entscheidungen würden an den Urnen fallen. Er rief beide Seiten auf, der Gewalt ein Ende zu bereiten. Das System lasse sich von Straßenprotesten nicht einschüchtern und werde "illegitime" Forderungen nicht erfüllen.
Demo wieder verboten
Mehrfach warf er dem Westen Einmischung und eine falsche Darstellung der Ereignisse vor. Dass er dabei die britische Regierung als die schlimmste bezeichnete, erregte in London Unmut: Der iranische Botschafter wurde einbestellt. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel richtete aus Brüssel, wo der EU-Gipfel stattfand, aus, die Rede Khameneis sei enttäuschend gewesen. Der Gipfel forderte Teheran auf, wieder friedliche Demonstrationen zuzulassen.
Am Freitag hatten die Anhänger Mouusavis stillgehalten, um das Freitagsgebet nicht zu stören, während sich auf Anweisung tausende regierungstreue Erzkonservative sowie sämtliche Beamte Teherans um Khamenei scharten. Viele trugen Schwarz. Am heutigen Samstag wollen die Anhänger von Moussavi abermals ein "grünes Meer" auf den Straßen veranstalten. Grün ist die Farbe Moussavis.
Diese Kundgebung ist allerdings ebenso wie die anderen Proteste der vergangenen Tage nicht erlaubt worden. Wie bisher dürfte das Verbot aber missachtet werden. "Heute ist der Tag der Entscheidung. Wir werden gegen den Wahlbetrug demonstrieren, abwarten und hoffen für euch, dass ihr behutsam reagiert." Mit diesen Worten äußerte ein Demonstrant am Freitag auf einer Website die Hoffnung, dass sich Wächterrat und Expertenrat, zwei der Schlüsselinstitutionen Irans, in den nächsten Tagen doch noch dazu hinreißen lassen, eine Umkehr des Ergebnisses der Präsidentschaftswahlen vom 12. Juni, bei denen Ahmadinejad als klarer Sieger (63 Prozent) hervorgegangen ist, zu ermöglichen.
Beteiligung 140 Prozent
Beide Gremien tagen seit Mittwoch und hinter den Kulissen, so hört man, brodelt es. Der Wächterrat, das für alle Wahlen zuständige Organ, hat zwar Neuwahlen kategorisch ausgeschlossen, sich aber immerhin auf Druck der Straße dazu bringen lassen, die rund 650 Beschwerden der drei unterlegenen Kandidaten Mehdi Karroubi, Mohsen Rezai und Mir Hossein Moussavi zu prüfen und einige Wahlsprengel neu auszählen zu lassen. Die drei Wahlverlierer werden dazu Samstag vom Wächterrat zu Gesprächen empfangen. Der konservative Kandidat Rezai beklagte am Freitag, dass in 170 Wahlbezirken zwischen 95 und 140 Prozent der Stimmberechtigten gewählt hätten, und kritisierte den Wächterrat.
Präsident "mag jeden"
Das ganze iranische Machtgefüge scheint durch die unerwarteten Massendemonstrationen ins Schwanken geraten zu sein. So ist auch zu erklären, dass der Präsident sich bei den hunderttausenden Demonstranten, die er zu Beginn der Woche als Lumpen bezeichnet hatte, auf Geheiß Khameneis im Fernsehen indirekt entschuldigte: "Die Regierung ist jedermann zu Diensten. Wir mögen jeden."
Unter den gemischten Signalen, die das Führungsestablishment derzeit aussendet, war die ungewöhnliche Stellungnahme des Expertenrats bemerkenswert. Der 86-köpfige Rat gratulierte dem "revolutionären Volk" zu einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent. Zugleich verurteilte er "Unruhen und Ausschreitungen", für die "Feinde" verantwortlich gemacht wurden.
Wichtiger als das Gesagte war aber das, was nicht gesagt wurde. Die Erklärung enthielt kein Wort über den umstrittenen Wahlsieg Ahmadinejads, stattdessen beinhaltete sie einen leisen Seitenhieb auf den Revolutionsführer Ali Khamenei. Es war von "Flexibilität", mit der der "weise" Führer die Krise lösen werde, die Rede. Bemerkenswert dabei: Normalerweise trifft sich der Expertenrat nur einmal im Jahr für fünf Tage zu einer konstituierenden Sitzung und veröffentlicht keine Statements, schon gar nicht zu aktuellen politischen Entwicklungen. Eher beschränkt er sich verfassungsgemäß normalerweise darauf, die Amtsführung des Revolutionsführers zu beobachten und seine gesetzlichen Pflichten zu überprüfen. Im Krankheitsfalle oder bei Missachtung seiner Pflichten der Amtsführung kann der Revolutionsführer vom Expertenrat seines Amtes enthoben werden. Ein Rat im Hintergrund, der beobachtet, aber sich nicht einmischt, könnte man also zusammenfassend sagen.
Nach der umstrittenen Wahl kommt diesem Gremium eine ungewollte staatstragende Rolle zutrage: Er wurde von seinem Vorsitzenden, Ex-Präsidenten und Erzrivalen von Ahmadinejad, Ali Akbar Rafsanjani, quasi außerplanmäßig zusammengerufen.
Eine direkte Kritik oder eine Handlungsanweisung für Khamenei wäre ein unglaublicher Affront gewesen und wurde daher vermieden. Doch alle politischen Größen des Landes verstanden das Signal, das Rafsanjani gesetzt hatte. Die sanften Worte Khameneis in seiner Freitagspredigt in Richtung Rafsanjani sind daher wohl auch dahingehend zu verstehen, dass er den Rivalen zu besänftigen suchte.
Die Erklärung des Expertenrates ist daher als Ausdruck des Machtkampfes hinter den Kulissen verstehen, bei dem Khamenei unter Druck gerät, Ahmadinejad fallen zu lassen. Nach Verkündung der Überprüfungsergebnisse durch den Wächterrat will der Expertenrat dann seine weitere Vorgangsweise definieren.
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