Die alte Konkurrenz wurde unter Stalin zum Machtkampf. Ukrainer beherrschten immer wieder die gesamte Sowjetunion.
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Die Ukraine gehörte vor dem Zerfall der UdSSR zu den drei größten Teilrepubliken - neben der Russischen Föderation mit Moskau als Hauptstadt und Weißrussland mit Minsk als Metropole. Der Kiewer Rus war sogar lange das dominante Zentrum unter den Verwandten, bis für einige Jahrzehnte bis 1991 vollendete Tatsachen geschaffen wurden: gemeinsamer Kommunismus, gemeinsame Orthodoxie. Dann öffneten sich die Unterschiede wieder.
Ein Blick weit zurück: Die Waräger, ein Teilvolk der Wikinger, drangen ab dem 8. Jahrhundert auf den osteuropäischen Flüssen bis an den Bosporus vor. Vor allem begründeten sie als neue Oberschicht den späteren Kiewer Rus. Zu ihm in eine Konkurrenz stieß der Moskauer Rus erst 200 Jahre später, nachdem das Großfürstentum Twer, mit derzeit 400.000 Einwohnern auf der Eisenbahnlinie Moskau-St.Petersburg gelegen, seine alte Vormachtstellung hatte aufgeben müssen.
Im Spätmittelalter stand Moskau unter dem Einfluss der Mongolen und konnte mithilfe von deren Verwaltungs- und Kommunikationsgeschick die Macht von Twer zurückdrängen. Aus Studien der damaligen Kämpfe und Wirtschaftsbeziehungen geht hervor, dass Asien mit seinen Denk- und Herrschaftsmethoden bereits in Moskau beginnt und nicht erst am Ural.
Vielvölker-Landschaft
In der Neuzeit war das damalige Großfürstentum Moskau über Jahrzehnte dem Druck Schwedens, Litauens und Polens ausgesetzt. Entspannung kam erst durch den neuen großen Star aus dem Hause Romanow: Zar Peter der Große war tatsächlich groß, je nach Quelle zwischen 2,03 und 2,15 Meter. Er regierte von bis 1683 bis 1725 nach westlichen Vorbildern als ein absolutistischer Herrscher, der die Aufklärung nach Russland brachte. Ohne flächendeckende Schulbildung (im Unterschied zu Österreich unter Maria Theresia) fanden seine Reformen nur in den großen Städten festen Boden, auf dem Land blieben die feudalen Strukturen bestehen, und die Armut der kleinen Bauern blieb nicht nur ungehört, sondern auch unbekannt.
St. Petersburg blühte auf als eine Filiale des westeuropäischen Luxus und der westeuropäischen Kultur. Die Kulaken fern von den Machtzentren hatten nur eine (innerliche) Stütze: Den Klerus der Orthodoxie, deren Bischöfe zwischen Moskau und den Patriarchen in Konstantinopel lavierten.
1772 begann die Herausbildung der historischen Landschaft Galizien, als Teile des sogenannten Kleinpolen, Rutheniens (heute Ukraine) und des Karpaten-Vorlandes (früher bei Polen und Litauen) an Habsburg fielen. Von 1867 bis 1918 war es als Königreich Galizien und Ludomerien ein Kronland der Monarchie mit der Hauptstadt Lemberg. Später kamen etwa Krakau (als Republik) und die Bukowina (Hauptstadt: Czernowitz) zu Galizien. Es war eine Vielvölker-Landschaft, die Monarchie im Kleinen, etwa so groß wie Österreich heute, aber mit nicht mehr als drei Millionen Einwohnern. Die Städte prosperierten, wozu im späten 19. Jahrhundert auch noch Ölfunde und damit neue Reiche kamen - mit Palais in Wien und Entfremdung von der eigentlichen Herkunft.
Polen und Ruthenen waren am stärksten, die Juden erreichten einen Bevölkerungsanteil von fast 10 Prozent und dominierten mit den Armeniern (deren reichste sich auch in Wien ansiedelten) Handel und neue Industrie. Nicht zu vergessen: Verwestlichung und ansatzweise Demokratisierung dessen, was heute die Westukraine ist - mit Auswirkungen auf Kiew. Zur Illustration: Es gab fast 19.000 adelige Familien mit 95.000 Angehörigen, aber nahezu zwei Millionen - also mehr als
70 Prozent der Bevölkerung - waren Unfreie (also Bauern).
Um 1775 gab es 4.000 katholischen Kirchen, aber 16.000 Wirtshäuser (eines je 160 Einwohner), 216 Klöster, 360 Schlösser, 120.000 Bürgerhäuser und Großbauernhöfe (16.000 von Juden bewohnt) sowie 320.000 kleine Bauernhöfe mit einer Kuh und wenig Grund. Bei der Wiener Machtübernahme hatte nicht die wirtschaftliche Investition Vorrang, sondern die Bildung. In Lemberg, schon 1661 von den Jesuiten und dem polnischen König Kasimir gegründet, leben heute 25.000 Studenten. Czernowitz in der Bukowina mit heute etwa 20.000 Studenten war bei der Gründung 1875 so etwas wie eine geisteswissenschaftliche Investition. Viele Forscher begannen dort ihre Karrieren, um sie in Wien, Prag oder Graz fortzusetzen. Die Universität Kiew wurde 1834 zwar nach deutschen Lehrplänen gegründet, das anfängliche Lehrpersonal aber stammte aus dem mittleren bis höheren Schulwesen. Man zielte auf ukrainische Bewusstseinsbildung.
Regionale Macht
Wenig debattiert wird über die Rolle von Belarus, das heute ethnisch ziemlich homogen ist, wenngleich eine harte Diktatur und mit geringem Widerstand nach der Pfeife Moskaus tanzend. Der Staat entstand aus Abtrennungen des einst großen und mächtigen Reiches Litauen und aus den polnischen Teilungen. Der Zweite Weltkrieg setzte dem Land massiv zu. Zeitweise war es völlig von deutschen Truppen besetzt, 8 bis 9 Prozent aller europäischen Juden wurden auf weißrussischem Territorium verschleppt oder umgebracht. Fast alle Städte des Landes wurden völlig zerstört, die Industriekapazität wurde ausgelöscht, der Viehbestand um 80 Prozent verringert: Die Bevölkerung halbierte sich, weil sie permanent dem Hungertod nahe war. Die Elite lebte in den Städten, floh aber oder schloss sich den kommunistischen Zellen an.
Eine Karriereleiter von der Hauptstadt Minsk nach Moskau entwickelte sich nicht. Das einzige mäßig bekannte weißrussische Mitglied des zentralen Politbüros, Kirill Masurow (1914 bis 1989) war zwölf Jahre auch Parteichef von Belarus. Dafür spielten Kiew und der seit 2014 so heftig umkämpfte Donbas in den Kadern der KPdSU eine herausragende Rolle. Schon unter Josef Stalin besetzten Ukrainer fast immer ein Drittel der Sitze im Politbüro.
Die landwirtschaftlichen Flächen der Ukraine waren das eine Machtmittel (heute gehören rund 25 Prozent chinesischen Staatsfirmen), das andere waren die großen Stahl- und Rüstungswerke: Lange Zeit eines der größten war Asow-Werk in Mariupol. Die wirtschaftlichen Machtfaktoren waren bis in die 1990er Staats- und Parteistütze. Der Zusammenbruch der Sowjetmacht gebar die Oligarchen. Asow-Stahl gehört heute einem der reichsten Männer Osteuropas, dem gebürtigen Tataren Rinat Achmatow.
Von der Krim über Mariupol, Lukansk, Donezk und Dnjepopetrowsk bis hinauf nach Charkiw erstreckt sich die nach sowjetischen Prinzipien funktionierende und mehrheitlich russischsprachige Ostukraine, die für Kiew wohl nicht zu halten sein wird, mit ihrem industriellen Zentrum und reichen Steinkohlevorkommen im Donezk-Becken. Damit werden heute noch viele russische Lokomotiven befeuert, die Eisenbahner links und rechts der Grenze waren kommunistische Strongholds. Dazu sollte man sich auch die Biografien zahlreicher mächtiger Figuren der Stalin-Zeit und der rund 40-jährigen Ära der Nachfolgekämpfe genauer anschauen.
Nikita Chruschtschow (1894 bis 1971)
Er war von 1953, Stalin Todesjahr, bis 1964 Erster Sekretär der Partei, ab 1958 auch Ministerpräsident. Er stammte aus einer westrussischen Bauernfamilie, die 1908 (da war er 14 Jahre alt) ins Donezk-Becken übersiedelt war. Ab 1938 saß er im Politbüro, wo er allerdings bei Stalins Tod nur an fünfter Stelle stand. In Moskau war er jedoch Parteiverantwortlicher beim Bau der U-Bahn, im Politbüro sicherte es sich die wichtige Stelle als Landwirtschaftschef im Zentralkomitee.
Leonid Breschnew (1906 bis 1982)
Er stammte aus einer Metallarbeiterfamilie in Dnepropetrowsk. Mit 33 Jahren wurde er bereits, gefördert von Stalin, ukrainischer Bezirkssekretär für die Rüstungsindustrie und gehörte während des Zweiten Weltkriegs in der Roten Armee zu den Schlüsselfiguren. Dort lernte er Chruschtschow kennen. Breschnew kooperierte mit ihm eng, was ihn nicht daran hinderte, seinen Vorgänger 1964 zu stürzen. Bis 1982 blieb er als Parteichef der mächtigste Mann der UdSSR.
Nikolai Podgorny (1903 bis 1983)
Im Zweiten Weltkrieg Minister für die Lebensmittelindustrie, war er von 1957 bis 1963 Parteichef der Ukraine und von 1965 bis 1977 sowjetisches Staatsoberhaupt, ehe ihn Breschnew entmachtete.
Andrei Schdanow (1896 bis 1948)
Der üble Hardliner und enge Gefolgsmann Stalins war im heute umkämpften Mariupol zuhause (von 1948 bis 1989 war es nach ihm Schdanow benannt). 1915 schloss sich Schdanow dem Bolschewismus an und betätigte sich erfolgreich als Demagoge in den landwirtschaftlichen Gebieten der Ostukraine, ehe er in Leningrad (St. Petersburg) Führer der Kulturpolitik wurde. Im Rahmen des Kominform hielt er 1947 eine berühmt gewordene Rede als theoretische Grundierung des Kalten Kriegs. Der stärkste Nachfolgekandidat Stalins, dessen Säuberungen er in den 1930ern mitexekutierte, starb 1948 unerwartet.
Lasar Kaganowitsch (1893 bis 1991)
Der politische Überlebenskünstler wurde bei Kiew geboren. Der Sohn jüdischer Eltern ging über Belarus ins Donezk-Becken, wo er in einer Schuhfabrik werkte - und sich vor allem als Agitator betätigte. Über Moskau kam er zurück nach Kiew, wo er Generalsekretär der Partei wurde und eine Politik der Ukrainisierung betrieb. Stalin holte ihn zurück nach Moskau. Der Machthaber, der loyale Funktionäre als "Durchsetzer" in alle Richtungen schickte, ließ Kaganowitsch in Taschkent (Usbekistan) die dortige KP säubern und neu aufstellen. In den 1930ern wirkte er bei den zentralen Säuberungen mit, war aber zugleich Volkskommissar für das Moskauer Bauwesen, die Eisenbahn und die Ölindustrie. Seine letzte Funktion in den 1980ern war kurioserweise die des Chefs der Asbestindustrie.
Bewusstsein für Machtachse
In den Kanzleien des Kreml (ich sah in den 1970ern und 1980ern die weitläufigen Räume des Außenministeriums mit den Beamten hinter den Schreibmaschinen) hielt sich das Bewusstsein für diese Machtachse zweifellos. Die Bürokratie hat überall ein langes Gedächtnis. Deshalb hat der russische Präsident Wladimir Putin im zentralen Machtapparat starken Rückhalt für die von ihm wiederholt formulierte These, dass die Ukraine kein eigener Staat sei und untrennbar zu Russland gehöre. Die von ihm angestrebte Abtrennung der Ostukraine und erwartbar auch die endgültige Einverleibung Transnistriens (wo Moldawien ohnehin schon die Macht verloren hat) sind daher wohl nur eine Frage der Zeit. Die beginnende Demokratie in der Ukraine ist für den Kreml ein lästiges Hindernis.