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"Kim Jong-un ist kein Verrückter"

Von WZ-Korrespondent Fabian Kretschmer

Politik

Der Nordkorea-Experte Andray Abrahamian über die Motive der nordkoreanischen Führung im Atomstreit.


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"Wiener Zeitung": Für viele Beobachter kam der sechste Atomtest Nordkoreas an sich nicht überraschend, wohl aber dessen Ausmaß: Vermutlich handelte es sich um eine Wasserstoffbombe, die - so behauptet es das Regime - auf einer Interkontinentalrakete befestigt werden kann. Hat dies die Situation auf der koreanischen Halbinsel grundlegend verändert?

Andray Abrahamian: Das glaube ich nicht, denn Nordkorea arbeitet ja seit langem schon auf genau dieses technologische Endziel hin: eine Atombombe auf das US-Festland abwerfen zu können. Der Atomtest gestern war jedoch insofern bahnbrechend, dass sich die Entwicklungen wesentlich rasanter beschleunigen, als die meisten das erwartet hätten. Eine direkte Auswirkung in Seoul ist, dass der Ruf nach Atombomben auf südkoreanischem Boden immer lauter wird.

Hätte das politisch Sinn?

Bereits während seines Wahlkampfes hat Donald Trump laut darüber nachgedacht, dass Südkoreaner ihre eigenen Atombomben haben sollten. Es war interessant zu sehen, wie sich seither in Südkorea die Einstellung selbst unter moderaten Akademikern und Politikern in dieser Frage verändert hat. Doch selbst wenn US-Atombomben wieder auf südkoreanischen Boden stationiert würden, wie es bis Anfang der Neunziger Jahre der Fall war, wäre das hauptsächlich symbolisch. Der atomare Schutzschild der Amerikaner deckt Südkorea ohnehin bereits gründlich ab - durch Interkontinentalraketen, Atom-U-Boote und strategische Langstreckenbomber.

Vor allem im Westen wird Kim Jong-uns Strategie, ohne Rücksicht auf die internationale Gemeinschaft seinen atomaren Kurs weiter zu verfolgen, als irrational wahrgenommen. Was will Nordkoreas Diktator damit erreichen?

Kim Jong-un ist kein Verrückter. Hinter seinem Atomprogramm steckt eine klare Strategie: Er möchte an einen Punkt gelangen, an dem er die USA militärisch bedrohen kann. Die Atombombe ist seine Lebensversicherung. Das Regime realisiert natürlich, dass die Nordkoreaner unter den Sanktionen leiden und ihre Wirtschaft kaum entwickeln können. Deshalb treibt es sein Atomprogramm auch mit einer solchen Rasanz voran - um sein Ziel so schnell wie möglich zu erreichen. Erst dann nämlich kann es auf Mittel der Diplomatie zurückgreifen, um schließlich der Wirtschaft Verbesserung zu verschaffen. Nordkorea fordert von den USA einen Friedensvertrag für den Koreakrieg, der 1953 mit einem Waffenstillstandsabkommen beendet wurde.

Wäre das genug, damit Kim seine Atombombe aufgibt?

Um ehrlich zu sein, kann ich mir momentan kein Szenario vorstellen, in dem die Nordkoreaner ihr Nuklearprogramm aufgeben würden. Sie vertrauen weder den Chinesen noch den Amerikanern. Aus ihrer Sicht gibt es nichts Besseres als ein Atomarsenal, das dem Staat eine solche Sicherheit geben kann. Damit sie diese Sicherheit für einen Friedensvertrag aufgeben, müsste dieser schon beinhalten, dass die Südkoreaner ihre Allianz mit den US-Amerikanern aufgeben und Washington all seine Truppen abzieht - was wiederum nicht passieren wird.

Trump hat zumindest in seinem Wahlkampf angedeutet, dass er seine Truppen aus Südkorea abziehen würde, wenn Seoul nicht mehr für die Militärallianz zahlt.

Naja: Es ist schon schwer genug herauszufinden, was Kim Jong-un wirklich denkt. Aber bei Trump ist das nahezu unmöglich: Sollen wir solche Aussagen etwa ernst nehmen? Welche Tweets genau sind Indikatoren für seine Politik? Es ist wirklich hart, das einzuschätzen. Worum ich mich wirklich sorge, ist, dass Trump in letzter Zeit mehrere Schritte unternommen hat, die die US-südkoreanische Allianz gefährden. Seine aggressive Rhetorik gegenüber Nordkorea - Stichwort "Feuer und Wut" - lässt den Eindruck entstehen, dass er einen militärischen Konflikt auf der koreanischen Halbinsel riskieren könnte, der ja vor allem auch die Leben der 50 Millionen Südkoreaner gefährden würde. Zudem hat Trump am Samstag angekündigt, das gemeinsame Freihandelsabkommen mit Südkorea nicht nur neu auszuverhandeln, sondern komplett aufkündigen zu wollen. Dabei hat Südkorea erst im letzten Jahr dem Aufbau des Thaad-Raketenabwehrsystems der Amerikaner auf eigenem Gebiet zugestimmt - und zwar hauptsächlich, weil Washington das so wollte. Die Wirtschaft musste daraufhin massiv unter inoffiziellen Sanktionen aus China leiden.

Kann man sagen, dass im Umgang mit Nordkorea sowohl Diplomatie als auch Sanktionen gescheitert sind?

Die meisten Länder, die ihr Atomprogramm als essenziell für ihr Überleben betrachten, werden einen Weg finden, das auch zu entwickeln - selbst wenn das bedeutet, alle möglichen internationalen Normen zu brechen und unter Sanktionen zu leiden. Das haben wir mit Isreal, Indien und Pakistan gesehen. Die Nordkoreaner sind schon immer an Atomwaffen interessiert gewesen, seit sie gesehen haben, was in Hiroshima und Nagasaki passiert ist. Später haben sie das Ende von Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi beobachtet, die entweder das Ziel der nuklearen Abschreckung nicht erreicht oder aufgegeben haben.

Politisch isoliert sich das Land mit seinem Atomkurs zunehmend. Wirtschaftlich hat sich Nordkorea jedoch in den letzten Jahren erstaunlich verändert. Können Sie diese Transformation skizzieren?

Kim Jong-un hat definitiv realisiert, dass das alte Modell der Staatswirtschaft im Zeitalter des 21. Jahrhunderts nicht effizient genug ist. Im Unterschied zu seinem Vater Kim Jong-il hat er nicht nur die Rolle der Märkte anerkannt, sondern diese auch aktiv gefördert. Kleinsthändler können nun unbehelligt ihr Geschäft machen und werden vom Staat weitgehend in Ruhe gelassen. Den großen Staatsunternehmen hat Kim Jong-un gesagt, dass sie ebenfalls nach den Prinzipien des Marktes funktionieren sollen. Früher wurde ihnen beispielsweise die Materialien vom Staat gegeben. Der Staat war es letztendlich auch, der ihre Produkte abgenommen hat. Mittlerweile jedoch müssen sie sich selber um ihren Materialeinsatz kümmern und auch Kunden für ihre Produkte finden. Für die Bevölkerung bieten all diese Entwicklungen ganz neue Möglichkeiten, sich zu entwickeln. Das hat auch die Denkweise der Leute verändert. Viele sehen unternehmerische Fähigkeiten als essenziell an, um im Leben voranzukommen. Aber natürlich ist die wirtschaftliche Öffnung ein langwieriger Prozess, der durch das Festhalten am Atomprogramm erschwert wird.

Besteht Hoffnung, dass die wirtschaftlichen Reformen auch politische Reformen folgen werden - wie beispielsweise in China unter Deng Xiaoping?

Nordkorea hat zwar bis zu einem gewissen Punkt die Wirtschaft liberalisiert. Was sie aber langfristig wirklich öffnen müssen, sind der Informationszugang sowie die Reisefreiheit für seine Bürger im In- und Ausland. Solange sie dazu nicht bereit sind, werden wir keine vergleichbaren Entwicklungen wie in Vietnam oder China sehen. Wir wissen auch nicht, wie Kim Jong-un agiert, sobald er seine nukleare Abschreckung vollständig besitzt. Denn diese kann natürlich vor externen Bedrohungen schützen, hilft jedoch wenig bei inneren Bedrohungen. Ebenso wissen wir nicht, ob ein nukleares Pjöngjang auf internationaler Ebene noch stärker provoziert als bisher, oder ob es einen gegenteiligen Weg einschlagen wird. Ich halte durchaus für möglich, dass das Regime eine längere, ruhige Phase ohne Provokationen anstreben wird, damit das Ausland nachlässiger bei der Umsetzung der Sanktionen wird. Denn wenn sie wirklich für ein paar Jahre von der medialen Bildfläche verschwinden werden, dann wird es nicht mehr darum gehen, jede Schiffsfracht mit Meeresfrüchten aus Nordkorea streng zu kontrollieren.

Andray Abrahamian ist Visiting Fellow am Jeju Peace Institute und am Center for Korean Studies der Universität Berkley. Als Leiter der NGO Choson Exchange hat der Brite jahrelang Wirtschaftsseminare in Pjöngjang abgehalten und unter anderem junge Nordkoreaner auf ihrem Weg ins Unternehmertum unterstützt.