Zum Hauptinhalt springen

Kim nimmt Kurs auf China

Von Gerhard Lechner

Analysen

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Jahrzehntelang galt das völlig abgeschottete Nordkorea nicht nur als eine der bizarrsten Diktaturen der Welt, sondern für politisch Interessierte auch als großes Rätsel: Selbst vergleichsweise intime Kenner des Landes haben ihre Schwierigkeiten, die Winkelzüge der politischen Führung des kommunistischen Staates zu deuten. "Teeblätter lesen", so beschreiben erfahrene Nordkorea-Auguren ihre Haupttätigkeit. Diese besteht darin, die Bedeutungshaftigkeit selbst marginaler Veränderungen in dem auch ideologisch auf totale Autarkie getrimmten Staat richtig zu deuten.

So gesehen könnten Nordkorea-Experten bereits eine richtiggehende "Tea Party" veranstalten - denn es tut sich offenbar so einiges in Nordkorea. Diese Woche hat der neue, junge Machthaber Kim Jong-un zunächst den Generalstabchef wegen einer nicht näher beschriebenen "Krankheit" entlassen, dann die Stelle rasch nachbesetzt und sich selbst, einen Zivilisten, zum Marschall machen lassen. Er ist damit auch nominell Oberbefehlshaber der Armee. Da der gefeuerte Ri Yong-ho mit 69 Jahren noch zur jüngeren Riege der nordkoreanischen Spitzenpolitiker zählte und außerdem bis zu seiner Ablösung einen recht rüstigen Eindruck machte, geht man davon aus, dass seine Absetzung einen Grund hatte - der Ex-Armeechef, so berichten Informanten, habe sich gegen geplante Reformen des jungen Kim in Nordkorea gewandt.

Eine Deutung, die jedenfalls durchaus möglich erscheint - und durch jüngste Berichte erhärtet wird: Ri, so berichtete ein Insider am Freitag der Agentur Reuters, sei der entschiedenste Anhänger einer Fortsetzung der Politik von Ex-Staatschef Kim Jong-il gewesen, unter dem die 1,2 Millionen Mann zählende Armee die Wirtschaft kontrolliert habe. Das wolle der junge Kim nun ändern - auch indem er sich von der Entourage seines Vaters abgrenzt. In der Regierung sei ein "politisches Büro" eingerichtet worden, das den Militärs die Zuständigkeit für Betriebe und Landwirtschaft nehmen solle, berichtete der Informant. Nordkorea will sich offenbar China annähern - billige Arbeitskräfte in den mit Peking gemeinsam eingerichteten Sonderwirtschaftszonen sind reichlich vorhanden.

Tatsächlich häufen sich in jüngster Zeit die Anzeichen für eine Öffnung der Festung Nordkorea: Beispielsweise hat überrascht, dass Ris Abgang medial ebenso bekanntgegeben wurde wie im April ein schiefgelaufener Raketentest. Reisende berichten von einem kleinen Wirtschaftsboom in Pjöngjang, von kürzeren Röcken und höheren Absätzen bei den Mädchen - allerdings auch von einem Fortleben der Tristesse auf dem Land, von Häusern ohne Heizung und Fensterscheiben sowie von Straflagern und Gulags.