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Kinder auf Rachefeldzug

Von Carsten Stormer

Politik

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An einem Lagerfeuer vor einer zerstörten Hütte des Dorfes Mousbet sitzt Issar Mohammed. Er zieht sich seine Kamelhaardecke enger um seine Schultern und streckt seine Finger dem Feuer entgegen, um sich vor dem eisigen Nachtwind zu schützen, der unbarmherzig durch jede Kleiderschicht dringt. Neben ihm liegt eine Kalaschnikow, an seinem Oberarm hat er ein Messer befestigt. Er spielt mit einer Handgranate, wirft sie von einer Hand in die andere. Um seinen Hals, den Oberkörper und seine Hüfte baumeln an Kordeln und Schnüren aufgereihte Lederbeutel, die mit Koransuren gefüllt sind - die hijabs. Issar glaubt, dass diese Lederbeutel ihn vor den Kugeln seiner Feinde beschützen werden, wenn er auf Seiten der Sudanese Liberation Army (SLA) in Darfur kämpft. Äußerlich unterscheidet ihn nichts von seinen Kameraden: Er trägt gerne verspiegelte Sonnenbrillen und einen gelben Turban über seiner Rastafrisur. Doch Issar ist 15 - ein Kindersoldat.

Im Februar flog die sudanesische Luftwaffe Angriffe auf Issars Dorf Anka in Nordsudan. Sein Vater kam dabei ums Leben, seine Mutter floh mit seinen beiden Schwestern in den Tschad, um in einem der Flüchtlingslager aufgenommen zu werden. "Ich musste zurückbleiben. Wir hatten nicht genug Esel, um die ganze Familie, Wasser und Essen zu tragen. Meine Geschwister waren zu jung, um hier alleine überleben zu können", sagt Issar. Nachdem seine Mutter fort gegangen war, schloss er sich den Rebellen der SLA an, um gegen die sudanesische Regierung und die von ihnen unterstützten Jenjaweed, die bewaffneten Arabermilizen, zu kämpfen. "Ich wollte meinen Vater rächen. Die SLA gibt mir die Möglichkeit", sagt er und seine Augen blitzen vor Zorn - oder vor Trauer. Bei den Rebellen hat er aber auch die Möglichkeit zu sterben. Issar aber zeigt auf seine hijabs: "Mich kann keiner töten." Aus ihm sprechen die Überzeugung und der Trotz eines Kindes.

Untersuchungen der UN und Hilfsorganisationen haben ergeben, dass 1998 bis zu 300.000 Kinder unter 18 Jahren an bewaffneten Konflikten weltweit teilnahmen. Seitdem, glaubt man, hat sich die Zahl der Kindersoldaten verringert, da einige Regierungen internationale Gesetze ratifiziert haben, die den Einsatz von Minderjährigen in Konflikten verbieten. Auch wenn einige Konflikte ein Ende nahmen, ist eine genaue Einschätzung, wie viele Kinder an Kriegen teilnehmen, unmöglich - tausende Kinder wurden aus den Armeen entlassen, aber tausende Kinder wurden auch für neue Kriege und Konflikte rekrutiert.

So wie Issar. Was hätte er auch anderes tun können. So gut wie jedes Dorf in Darfur ist ausgebrannt und zerstört - Schulen gibt es kaum. Die Flüchtlingslager sind überfüllt und zu weit entfernt, um die Strecke zu Fuß zu bewältigen. Laut jüngstem Bericht einer UNO-Sonderkommission sollen in diesem Bürgerkrieg bisher 70.000 Menschen getötet worden sein, zwei Millionen sich auf der Flucht befinden. Aufgrund des Krieges und den immensen Flüchtlingszahlen war es nicht möglich, die Felder zu bestellen - die Ernte fiel aus. Norddarfur steht kurz vor einer Hungerskatastrophe. Um nicht zu verhungern und jemanden zu haben, der sich um ihn kümmert blieb ihm nichts anderes übrig, als sich einer der beiden Rebellengruppen - der SLA oder der Justice and Equality Movement - anzuschließen. Er entschied sich für die SLA.

Wie schrecklich der Konflikt ist, wird in dem Zhagawa-Dorf Farawija deutlich. 15 Minuten von dem Dorf entfernt, am Fuße eines Hügels, liegen die von der Sonne ausgetrockneten und mumifizierten Überreste von elf Menschen. Auch sechs Monate nach dem Angriff auf Farawija liegt noch immer der leicht süßliche Verwesungsgeruch in der Luft. Knochen und Totenschädel verbleichen unter der sengenden Saharasonne. . Ein SLA-Mann erzählt, dass die Männer von ihren Mördern an diese abgelegene Stelle gefahren, in zwei Gruppen aufgeteilt und dann hinterrücks erschossen wurden. Auf den Hemden und Hosen der Opfer sind immer noch getrocknete Blutflecken zu erkennen. Die Leichen, aus Propagandazwecken von den Rebellen nicht beerdigt, sind so auch nach sechs Monaten noch stumme Zeugen der unbarmherzigen Brutalität dieses Krieges.

Farawija selbst ist komplett zerstört. In dem gelben Sand am Stadtrand liegt eine graue Fliegerbombe russischen Typs - ein Blindgänger. Wenige Schritte entfernt klafft ein Bombentrichter von neun Metern Durchmesser im Boden. Die sudanesische Luftwaffe besitzt nur Antonows - alte russische Bomber, die für den Bombenabwurf nur eine Luke besitzen. Die Abwürfe erfolgen relativ unkontrolliert und unpräzise und richten somit wahllose Verwüstung unter Zivilisten an.

Kinder wie Issar gibt es viele in Darfur. Vor einer zerstörten Hütte in Mousbet steht die zwölfjährige Heida Ahmed Sherif und blickt auf die Trümmer, die einmal ihr Zuhause waren - zerbrochene Emailschüsseln und ausgebrannte Bettgestelle ragen aus dem Schutt. In Mousbet reiht sich eine zerstörte Hütte an die andere: In einer von diesen starb ihr Onkel. Als Heida die Explosionen hörte, lief sie in Panik aus dem Dorf und wurde so von ihrer Mutter getrennt. Ihr Vater kämpfte da schon auf Seiten der Rebellen. Erst bange Stunden später fand sie ihre Mutter wieder.

Seit diesem Tag vor sechs Monaten vegetieren Heida und ihre Familie unter einem Baum etwa einen Kilometer vom Dorf entfernt - in einem Unterstand aus krummen Ästen und Plastikplanen, die weder vor der sengenden Sonne noch vor den Sandstürmen schützen. Gegessen wird nur einmal am Tag - es gibt nicht mehr. Ein bisschen Hirse, ein paar Erdnüsse und manchmal eine Wassermelone müssen für sechs Personen reichen. "Wir gehen nicht zurück. Wir haben Angst, dass dann wieder Bomben fallen oder die Jenjaweed zurückkommen, um uns zu töten", sagt sie mit gesenktem Blick. Nur zum Wasserholen kommen sie und andere ehemalige Bewohner nach Mousbet. Sie sind Vertriebene in ihrem eigenen Land.

Auf der Ladefläche eines Lastwagens - neben schwer bewaffneten Rebellen, Proviantsäcken und Benzinfässern - wird der 13-jährige Saddam Jumaidris hin und her geschleudert. Er ist das einzige Kind unter dutzenden Erwachsenen. Er ist auf dem Weg von dem Flüchtlingslager Touloum, im Tschad, nach Kharthum, um dort seinen Onkel zu treffen und zur Schule zu gehen. Saddam hat noch hunderte Kilometer vor sich. Seine Reise wird noch mindestens zwei Monate dauern - wenn er Glück hat.

Saddams Geschichte gleicht dem, was die meisten Kinder in Darfur zu erzählen haben. Er musste mit ansehen, wie sein Vater bei einem Bombenangriff starb. Dann floh er mit seiner Mutter und seinen fünf Geschwistern in das Flüchtlingslager Touloum. Doch seine Mutter wollte unbedingt, dass er seine Schulausbildung beendet und schickte ihn deshalb auf diese Odyssee, die ihn in die Hauptstadt des Sudans führen wird. "Ich möchte unbedingt Ingenieur werden - nachdem ich meinen Vater gerächt habe. Ich möchte mit den Rebellen kämpfen", sagt er und lächelt dabei verlegen, als würde er sich wegen seiner Schulausbildung vor dem Krieg drücken. Die Leichtigkeit des Kindseins war das erste Opfer dieses Krieges, in dem Afrikaner gegen Afrikaner und Muslims gegen Muslims kämpfen. Platz für Helden gibt es keinen.

Eine träge Ruhe herrscht in dem kleinen Dorf Amerei. Doch die Ruhe ist trügerisch. Jeden Tag passieren Fahrzeuge - voll beladen mit Waffen, Munition und Soldaten - das Dorf Richtung Süden. Die Friedensverhandlungen zwischen den Rebellen und der sudanesischen Regierung, die in der nigerianischen Hauptstadt Abuja stattfanden, wurden gerade abgebrochen. Die Rebellen weigerten sich, die Gespräche fortzuführen. Sie beschuldigen die Regierung, den im April 2004 ausgehandelten Waffenstillstand gebrochen zu haben. Die Afrikanische Union (AU) beschuldigt beide Seiten. Seit einigen Wochen haben die Kämpfe wieder an Heftigkeit zugenommen. Jeden Tag gibt es Berichte von Kampfhandlungen. Besonders hart sollen die Kämpfe östlich von Nyala - Darfurs größter Stadt - sein.

Die Zivilbevölkerung ist die SLA", sagt Sulemein Mohammad Jamous, humanitärer Koordinator der Rebellenbewegung. Wenn nötig, wollen die Soldaten der SLA solange weiterkämpfen, bis sie die Hauptstadt Khartum eingenommen haben. 35.000 Mann hat die SLA laut eigenen Angaben unter Waffen. "Wenn nötig, mobilisieren wir 200.000. Jeder Junge, der eine Waffe halten kann, wird bereit sein, für unsere Sache zu sterben", da ist sich Jamous sicher. Laut Jamous steht das Schlimmste noch bevor. Issar wird noch viele Möglichkeiten haben seinen Vater zu rächen, indem er anderen Kindern die Väter nimmt. Der Friede für Darfur liegt in weiter Ferne.