Der Leiter des Unicef-Kinderschutzprogamms im Libanon Anthony MacDonald über Zwangsehe und Kindersoldaten.
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"Kinder zahlen den höchsten Preis für diesen Krieg." Dieser Satz fällt häufig unter Mitarbeitern des UN-Kinderhilfswerks Unicef im Libanon. Sie übertreiben nicht. Der Leiter des UN-Kinderschutzprogramms Anthony MacDonald sprach mit der "Wiener Zeitung" über die Herausforderungen seiner Arbeit im Libanon. Sie gehen weit über Schul- und Ausbildungsplätze für syrische Kinder hinaus.
"Wiener Zeitung":Nur 150.000 syrische Kinder gehen im Libanon zur Schule, dabei befinden sich mindestens 450.000 schulpflichtige Flüchtlinge im Land. Was hindert sie daran, am Unterricht teilzunehmen?
Anthony MacDonald: Die Gründe sind vielfältig. Einer davon ist, dass es einfach nicht genug Plätze gibt. Viele wollen auch nicht mehr zur Schule, sie haben schlechte Erfahrungen gemacht, wurden gemobbt - von Lehrern wie Mitschülern. Gibt es keinen Transport für die Kinder, dann laufen sie zudem Gefahr, auf dem Schulweg belästigt zu werden. Die schlechte wirtschaftliche Lage trägt dazu bei, dass Kinder gezwungen sind, zu arbeiten - etwa in der Landwirtschaft. Zudem sind die Kinder in Syrien traumatisiert worden, das macht den schulischen Erfolg schwer. Wir haben also junge Leute, die nicht lernen können, selbst, wenn sie die Möglichkeit haben. Sie können das Leben nicht mehr meistern. Dasselbe gilt natürlich auch für ihre Eltern.
Welche Rolle spielt die Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten im Libanon?
Kinder werden von bewaffneten Gruppen rekrutiert, um sich dem Kampf in Syrien anzuschließen oder auch den bewaffneten Konflikten im Libanon (um welche Gruppen es sich handelt, will Unicef aus Sicherheitsgründen nicht sagen). Es kommt aber auch vor, dass Kinder sich an der bewaffneten Gewalt beteiligen, ohne rekrutiert worden zu sein. Sie nehmen an der kollektiven Gewalt teil, die hier häufig auf Dispute folgt, sie patrouillieren in unsicheren Gegenden oder beteiligen sich an Schießereien anlässlich Feierlichkeiten oder Trauerzügen. Es gibt viele Motive für dieses Phänomen: sozio-ökonomische, altersbedingte - darunter Gruppendruck oder das Bedürfnis nach Bedeutung - sowie sektiererische, politische sowie stammesgesellschaftliche Spannungen. Auch der einfache Zugang zu Waffen und bestimmte kulturelle Praktiken spielen eine Rolle. Wir haben es hier mit einer Gesellschaft zu tun, in der Kinder, die weit unter 18 Jahre alt sind, bereits als erwachsen gelten; eine Gesellschaft, in der Gewalt häufig als eine der ersten Optionen gesehen wird, wenn es gilt, Antworten auf Konflikte zu finden.
Können Sie abschätzen, wie viele Kinder betroffen sind?
Das ist sehr schwer zu sagen. Es weist jedoch alles darauf hin, dass sich dieses Problem verschärft. Wir von Unicef sind sehr beunruhigt darüber und tun alles, um gemeinsam mit libanesischer Regierung und Zivilgesellschaft dagegen anzukämpfen.
Kinderehen sind ein großes Problem, der Brautpreis liegt bei 2000 bis 3000 Dollar. Welche Motive gibt es noch für Eltern, ihre Töchter zu verheiraten?
Etwa 25 Prozent der syrischen Mädchen im Libanon werden verheiratet. Sexuelle Gewalt ist ein Riesenthema. Es gibt keine Zahlen, aber das Problem ist in den vergangenen Jahren deutlich größer geworden, davor war Kinderehe im Libanon ein Randphänomen. Es gibt aber kein gesetzliches Mindestalter für Eheschließungen - religiöse Gruppen legen die Regeln fest. Wir sprechen hier von "negative coping mechanisms" (negative Bewältigungsmechanismen) - Eltern verheiraten ihre Töchter an ältere Männer, damit sie zumindest vor sexuellen Übergriffen Fremder sicher sind, Schutz in der neuen Familie finden.
Wie alt sind die Mädchen, wie alt die Männer bei der Eheschließung?
Die religiösen Regeln schreiben ein Mindestalter von neun Jahren vor. Viele werden mit elf verheiratet, das erste Kind bekommen sie mit 12. Meist gilt: je jünger das Mädchen, desto größer der Altersunterschied. 12-Jährige werden mit 30-jährigen Männern oder noch älteren verheiratet, oft beträgt der Altersunterschied 30 Jahre oder mehr. Religiöse Wohltätigkeitsorganisationen werben für die Kinderehe. Die Mädchen werden meist mit Männern aus derselben Gemeinde verheiratet, es handelt sich um Syrer sowie Libanesen.
Die psychologischen Folgen sind fatal...
Sie müssen die Schule verlassen, werden von ihren Freunden und Familien getrennt, sitzen in der neuen Familie fest. Oft werden sie schikaniert, dürfen das Haus nicht verlassen. Die Folgen für die Gesundheit sind schrecklich - früher Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft sind gefährlich für Mutter und Kind.
Wie kann man hier gegensteuern?
Wir arbeiten an Bewusstseinsbildung für Eltern. Sei denken häufig nur an die positiven Effekte: Immerhin kümmert sich jemand um die Kinder, immerhin haben sie zu essen und werden nicht mehr belästigt.
Anthony MacDonald leitet das Kinderschutzprogramm der Vereinten Nationen (UN) Unicef im Libanon. Der gebürtige Brite ist ausgebildeter Gerichtsanwalt (Barrister) und Spezialist für Menschenrechte sowie Kinderschutz.