Verbandspräsidentin Ulla Konrad: Wie Internet und Trennungen sich auswirken.
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"Wiener Zeitung":Kommenden Samstag tagt der Verband Österreichischer Psychologen zum Thema "Auf die Kinder schauen". Warum gehen immer mehr Eltern mit ihren Kindern zum Psychologen?Ulla Konrad: Natürlich kann man sagen alles wird überpsychologisiert. Aber wir wissen mehr als noch vor 20, 30 Jahren, warum sollten wir dieses Wissen nicht nutzen? Zudem beraten wir auch Eltern. Viele kommen sogar, bevor das Kind auf der Welt ist, um sich darauf vorzubereiten und zu sehen, was sie für Ressourcen haben, um auf ein Kind zu schauen. Eltern lesen Ratgeber. Das Wissen, das sie daraus schöpfen, ist hinterfragenswert.
Früher wäre das undenkbar gewesen. Übertreiben wir?
Früher waren Kinder einfach da, hatten nicht so viel Bedeutung. Es gibt heute aber weniger Kinder. Viele Menschen bekommen nur ein Kind spät und wollen dann, dass alles perfekt gelingt. Sie entwickeln Schuldgefühle, wenn dem nicht so ist. Eltern müssen lernen, ihre Erwartungen zurückzuschrauben: Kinder kommen auf die Welt mit bestimmten Veranlagungen und wir müssen sie nehmen, wie sie sind. Es gibt mehr Alleinerzieherinnen, mehr Trennungen und mehr Schuldgefühle, die damit verbunden sind. Das alles zusammen erklärt, warum die Menschen sich Beratung holen.
Immer mehr Kinder leiden unter Allergien oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS). Welche Rolle spielt dabei die Psyche?
Es gibt keinen Nachweis, dass Allergien psychisch bedingt sind. Aber es gibt Folgeerscheinungen mit psychischen Auswirkungen, so gesehen ist es ein Kreislauf. Eine Allergie bedeutet, dass ein Kind gewisse Dinge nicht essen und nicht annehmen darf, oder bei Geburtstagspartys eine eigene Torte braucht. Wenn aber im Kindergarten eine Liste hängt, was alles zu tun ist, wenn Florian einen Allergieschock hat, wird es zu sehr zur Katastrophe gemacht. Bei ADHS ist hingegen das Problem, dass die Diagnose oft falsch ist. Oft wäre eine klinisch-psychologische oder psychiatrische Diagnostik zielführend, denn es kann ein äußerer Konflikt sein, den das Kind auf diese Weise umsetzt.
Ein Konflikt ist auch die Trennung der Eltern. Was braucht ein Kind in dieser Situation am meisten?
Am meisten braucht es Zuwendung und eine Insel, wo es Geborgenheit gibt und das Kind sich auskennt. Für Kinder sind Stabilität und eine gewisse Verlässlichkeit wichtig.
Wie offen sollte man bei einer Trennung zu den Kindern sein?
Kinder sind scharf in der Wahrnehmung, sie wissen oft alles. Es ist ratsam, offen zu kommunizieren in altersgerechter Sprache. Man kann ihnen die Wahrheit zumuten, selbst wenn sich jemand umgebracht hat.
Wie können Eltern erkennen, wenn ihr Kind misshandelt wird?
Viele Opfer von sexuellem Missbrauch waren über Jahre verhaltensauffällig, es hat nur niemand nach dem Grund gesucht. Das Kind verhält sich anders - es ist zurückhaltender oder lauter. Eltern sollten hellhörig werden, wenn es mit etwas aufhört oder etwas vermeidet. Vielleicht will es plötzlich nicht mehr zum Opa gehen, obwohl es ihn liebt. Oder nicht mehr mit dem Roller zur Schule fahren, weil es auf dem Schulweg gemobbt wird. Wichtig wäre es, mit Kindern generell darüber zu reden, wie sie Grenzen setzen können oder wie sie sich bei Grenzüberschreitungen mitteilen sollen.
Man hat den Eindruck, es gebe immer mehr Missbrauchsfälle an Kindern. Stimmt das?
Das Thema ist präsent in den Medien, aber es gibt keine guten Prävalenzzahlen. Der Großteil der Missbrauchsfälle passiert nach wie vor in der Familie, doch nur weil ein Kind eine Vagina zeichnet, bedeutet das nicht, dass Missbrauch dahintersteckt - Kinder zeichnen einfach die Welt. In gewissem Sinn muss man also die Kirche im Dorf lassen.
Wie viele Medien sollten Kinder und Jugendliche konsumieren?
Generell sollten Kinder unter vier Jahren nicht fernsehen und dann nur langsam beginnen. Viele Bilder laufen zu schnell ab, kleine Kinder sind da eher überfordert. Sie sollten maximal eine halbe Stunde und Jugendliche maximal zwei Stunden täglich fernsehen. Jugendliche, die bis Mitternacht im Internet sind oder vor dem TV sitzen, haben oft Schlafstörungen.
Durch das Internet wird das Leben von Kindern immer komplexer. Sie können sich pornografische Informationen herunterladen, sich über Essstörungen austauschen oder bei Kontaktstörungen zurückziehen. Oft verstärkt es sogar gewisse Tendenzen, denn wir lernen über Nachahmung. Internet-Spielsucht entsteht allerdings auch durch Veranlagung, oftmals bei kontaktscheuen Menschen. Es ist ein Ventil, um wegzukippen, indem man in andere, neue Rollen schlüpft.
Das "Wegkippen" ist eine alte Sehnsucht und die Welt des Computers macht das Tagträumen bunter. Für einen dicklichen Buben, der in der Schule gehänselt wird, ist es großartig, den starken Ritter zu spielen. Wenn er sich selbst aber nicht mehr annehmen will, dann wird es schwierig.
Zur Person
Ulla Konrad, geboren 1971, ist Präsidentin des Berufsverbandes österreichischer Psychologinnen und Psychologen und Mitglied der Opferschutzkommission für Missbrauchsopfer der Kirche.