Die Ansichten darüber, wie viel für das Wohl der Flüchtlingskinder getan wird, klaffen auseinander.
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Zu Beginn dieses Jahres sei noch keine einzige der insgesamt elf Empfehlungen der ehemaligen Kindeswohlkommission umgesetzt gewesen. Aktuell seien es ebenfalls erst drei Unterpunkte, sagte die Vorsitzende und Ex-OGH-Präsidentin Irmgard Griss am Mittwoch. Und selbst diese nicht alle in gewünschter Form. Die Kommission war bereits vor fast eineinhalb Jahren vom damaligen Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) im Konflikt um Abschiebungen von Minderjährigen eingesetzt worden, um sich mit dem Stellenwert von Kinderrechten und Kindeswohl bei Entscheidungen zum Asyl- und Bleiberecht zu befassen. Der Abschlussbericht mit besagten elf Empfehlungen lag im Juli des Vorjahres vor. Darunter finden sich Schlagworte wie Kindeswohlprüfung, Gesetzesänderungen, kindgerechte Verfahren oder humanitäres Bleiberecht.
Fragt man allerdings in den für die Umsetzung zuständigen Ministerien nach, wird die Situation ganz anders dargestellt. Laut Innenministerium sind 22 der 34 Punkte, die dieses in unterschiedlichen Bereichen betreffen, umgesetzt. Seit Dienstag ist eine parlamentarische Anfrage der Neos-Abgeordneten Stephanie Krisper dazu durch Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) beantwortet. Und das Justizministerium habe gar sämtliche Empfehlungen, die in dessen Zuständigkeit fallen, umgesetzt, heißt es auf Nachfrage der "Wiener Zeitung".
"Bestmöglich" und "so gering wie möglich"
Wie kann das sein? Es gibt offenbar eine unterschiedliche Auslegung der einzelnen Punkte. Wenn es zum Beispiel um die geforderte Überwachung der Einhaltung der Kinderrechte geht, dann sei dieses nur dann sinnvoll, wenn diese regelmäßig durchgeführt werde -und nicht nur zweimal im Jahr, sagte Griss. Oder der Punkt, dass minderjährige Flüchtlinge in Einrichtungen untergebracht werden sollen, die den Standards der Kinder- und Jugendhilfe entsprechen. Die "besonderen Bedürfnisse dieser Personengruppe" würden "bereits bestmöglich berücksichtigt", heißt es dazu in der Anfragebeantwortung durch Karner. Eine unterschiedlich auslegbare Formulierung und abhängig davon, wie man "bestmöglich" definiert. Auch den Punkt der ausreichenden Therapieangebote für traumatisierte Kinder hat man laut Karner bereits umgesetzt: "bestmöglich", wie hier ebenfalls zu lesen ist. Was Abschiebungen betrifft, so werden "der Termin sowie die Art und Weise der Abschiebung" dabei so festgelegt, dass der Eingriff in das Kindeswohl "so gering wie möglich" gehalten werde.
Bezüglich des Justizministeriums fallen die drei von Griss genannten, auch aus ihrer Sicht bereits umgesetzten Punkte in dessen Zuständigkeit. In dem einen Jahr seit Vorlage des Abschlussberichts wurde demnach ein Leitfaden erarbeitet, wie bei der Kindeswohlprüfung im Asyl- und Fremdenrecht vorgegangen werden soll. Weiters gibt es nun sogenannte Ansprechrichter für Fragen des Kindeswohls beim Bundesverwaltungsgericht und schließlich auch eine Fort- und Weiterbildung für Richterinnen und Richter in diesem Gebiet. Hier gibt es laut Griss jedoch einen Haken: "Diese Fort- und Weiterbildung ist freiwillig, laut Bericht sollte sie aber verpflichtend sein."
Wesentliche Änderungen sollte es den Empfehlungen zufolge auch bei der Obsorge für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge geben: Diese solle "dringend für ganz Österreich einheitlich gestaltet" werden, derzeit bestehe hier eine "Schutzlücke". Eine Obsorge ab dem ersten Tag gibt es aktuell nur in Tirol. Die Obsorge ist zwar gesetzlich bundesweit geregelt, die Kinder- und Jugendhilfe ist aber Ländersache. Solange die Kinder also nach dem Asylantrag in der Bundesbetreuung sind, sind sie ohne Obsorge. Es gibt niemanden, der für deren Pflege und Erziehung oder rechtliche Vertretung zuständig ist. Erst nach dem Zulassungsverfahren wird die Obsorge der Kinder- und Jugendhilfe übertragen. Das Flüchtlingskind kommt dann für gewöhnlich in ein Länderquartier.
Mehr als drei Viertel der Kinder verschwinden
Bis dahin vergehen durchschnittlich 36 Tage, hat eine frühere Anfragebeantwortung durch Karner an Krisper vom März dieses Jahres ergeben. Der längste Aufenthalt in der Bundesbetreuung nach dem Stellen des Asylantrags dauerte im Vorjahr 220 Tage. In dieser Zeit verschwinden die Kinder mitunter: 2021 waren es 4.489. Setzt man diese in Relation zur Anzahl der unbegleiteten Minderjährigen, die ursprünglich um Asyl angesucht haben, so sind laut Innenministerium mehr als drei Viertel scheinbar wie vom Erdboden verschluckt. "Viele ziehen zu Familienmitgliedern in andere Länder weiter", sagt dazu Lisa Wolfsegger von der Asylkoordination Österreich. Ohne Obsorge passiere das aber selten auf legalem Weg. "Sie müssen sich Schleppern anvertrauen."
Um diese Lücke der Zeit ohne Obsorge zu schließen, hat Justizministerin Alma Zadic (Grüne) bei einem Kinderschutzgipfel im Mai mit den Landesräten einen Entwurf für eine bundesweit einheitliche, lückenlose Begleitung minderjähriger Schutzsuchender vorgestellt. Bei dieser Regelung der Obsorge ab dem ersten Tag für Kinder ohne Begleitung herrsche "große Einigkeit" unter den Ländern, heißt es auf Nachfrage der "Wiener Zeitung" aus dem Justizressort. In einem nächsten Schritt soll der Entwurf auf Fachebene mit den Kinder- und Jugendhilfe-Referenten der Bundesländer weiter diskutiert werden.
Das Hauptproblem bei einer Thematik wie dieser ist jedoch laut Griss die Einstellung, die Menschen zu Flüchtlingskindern haben. Viele sähen sie als Bedrohung und nicht als hilfsbedürftige Kinder an, so Griss: "Diese Einstellung muss sich ändern."