Beim Verzicht auf Gottesdienste ist das Solidaritätsargument zwiespältig.
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Der Kanzler kann zufrieden sein. In interreligiöser Eintracht haben die Religionsgemeinschaften seinem Drängen nachgegeben, im neuen totalen Lockdown freiwillig alle öffentlichen Gottesdienste auszusetzen, obwohl diese laut neuer Covid-Verordnung weiterhin erlaubt wären. Der Verzicht sei ein Zeichen der Solidarität mit der Gesamtgesellschaft, hieß es. Das kann man freilich auch anders sehen. Die anerkannten Kirchen befolgen seit dem ersten Lockdown besonders strenge Hygienemaßnahmen und werden so ihrer gesundheitlichen Verantwortung gerecht.
Während in der katholischen Kirche über den Gottesdienst-Lockdown und seine religiösen Kollateralschäden - ausgelöst durch einen klugen Kommentar des Wiener Theologen Jan-Heiner Tück - ein veritabler Streit entbrannt ist, scheint sich in den evangelischen Kirchen, die sich auf anderen Politikfeldern gern regierungskritisch zeigen, kein Widerspruch zu regen. Dabei herrschte zwischen ihnen und der Regierung im Vorfeld keineswegs eitle Harmonie. Der Kanzler hat offenbar vor seiner Pressekonferenz am 14. November lediglich eine Absprache mit dem Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz getroffen, um danach öffentlich zu behaupten, alle Religionsgemeinschaften würden auf Gottesdienste freiwillig verzichten.
Die evangelischen Kirchen erfuhren von dieser respektlosen Vorgangsweise erst aus den Medien, machten öffentlich aber gute Miene zum trickreichen Spiel und überboten sogar die katholische Kirche beim Schulterschluss mit der Regierung. Unisono beeilten sie sich zu erklären, selbst ein Verbot von Gottesdiensten auf dem Verordnungsweg würden sie nicht als Einschränkung der Religionsfreiheit betrachten.
Das Solidaritätsargument ist allerdings zwiespältig. Unter die Sorge um die Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung mischt sich wohl die Angst der Kirchen vor dem Vorwurf ungerechtfertigter Privilegien, während Theater und Museen geschlossen bleiben. Die Kirchenleitungen üben jedoch im Grunde nicht Selbstverzicht, sondern nötigen den Verzicht anderen Menschen auf, die vielleicht gerade jetzt - zum Beispiel am vergangenen Totensonntag - gemeinschaftliche Gottesdienste besonders dringend bräuchten. Die Menschen haben im Lockdown Trost und Zuspruch doppelt nötig. Könnte die Solidarität der Kirchen mit ihnen nicht unter anderem darin bestehen, Gottesdienste gerade jetzt nicht auszusetzen?
Digitale Gottesdienste sind hilfreich, aber kein Ersatz für physische Nähe. Von gemeinsam mit allen Sinnen gefeierten Gottesdiensten geht eine besondere Stärkung im persönlichen Glauben und Leben aus. Einseitige Lobgesänge auf die schöne neue Welt einer digitalen Kirche leisten der Platonisierung des Christentums und der Abwertung unserer Leiblichkeit Vorschub, die doch für das Menschenbild der biblischen Überlieferung ganz zentral ist.
Die Kirchen haben recht damit, dass Heil und Heilung nach christlichem Verständnis nicht auseinandergerissen werden dürfen. Die Dimension der Transzendenz geht aber verloren, wenn die Gesundheit in der säkularen Gesellschaft zum höchsten Wert und zur Ersatzreligion wird.