Mehr Katholiken als je zuvor haben 2004 ihrer Kirche den Rücken gekehrt. Dass diese Bilanz mit den Turbulenzen in der Diözese St. Pölten zu tun hat, liegt auf der Hand.
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Die Zahl der Austritte aus der katholischen Kirche Österreichs im Jahr 2004 hat den bisherigen Höchstwert aus dem von der "Causa Groer" geprägten Jahr 1995 - 44.300 - übertroffen. Sie könnte sogar mehr als 50.000 betragen, denn die bisher veröffentlichte Bilanz von 44.856 Austritten ist noch nicht komplett. Es fehlen die Dezember-Austritte aus der Erzdiözese Wien und vor allem die Jahresdaten der Diözese St. Pölten, wo die Zahl der Austritte (2003 waren es 3.524) möglicherweise noch kräftiger gestiegen ist als in den übrigen Landesteilen.
Mit Ausnahme der Diözese Innsbruck, wo die Austritte "nur" um 18,3 Prozent zunahmen, und der Erzdiözese Wien, wo letztlich etwa 20 Prozent Zuwachs herauskommen dürften, verzeichneten alle Diözesen gegenüber 2003 Steigerungen zwischen 36 und 41 Prozent. An der Spitze liegen die Diözesen Eisenstadt (40,7 Prozent Zuwachs) und Feldkirch (um 39,5 Prozent mehr Austritte), dicht gefolgt von Klagenfurt, Salzburg, Graz und Linz.
"Jeder einzelne Austritt ist für die Kirche schmerzlich", stellte der Pressesprecher der Erzdiözese Wien, Erich Leitenberger, fest. Ähnliche Kommentare kamen auch aus den anderen Diözesen. Weitgehend einig ist man sich in der Analyse: Als Hauptauslöser gilt der Sex-Skandal im Priesterseminar der Diözese St. Pölten und das Herunterspielen dieser Affäre durch den damaligen Bischof Kurt Krenn als "Buben-Dummheiten".
Vor dem Einsetzen der St. Pöltener Turbulenzen lag die Zahl der Kirchenaustritte im üblichen Bereich oder war sogar rückläufig. Zumindest in Vorarlberg, vermutlich aber auch in anderen Diözesen trugen dann auch noch die Missbrauchsvorwürfe gegen einzelne Geistliche, darunter den aus den Medien bekannten Kaplan August Paterno, zur Zunahme der Austritte bei.
Joachim Angerer, Altabt des Prämonstratenserstiftes Geras, meint, dass 2004 ein "Siedepunkt" erreicht wurde: "Die Leute waren so empört, dass viele nur noch eine Art von Protest als Ausweg sahen: den Austritt." Angerer vermutet, dass im Vorjahr nicht nur am Glauben Zweifelnde, die auf einen Anlass zum Absprung warteten, ausgetreten sind, sondern auch gläubige, engagierte Menschen, denen es einfach "gereicht" hat, wie die Causa Priesterseminar anfangs behandelt wurde.
Es sei aber zu hoffen, dass viele wieder zur Kirche zurückfinden würden, "wenn man zeigt, dass man bereit ist, zu lernen und nichts mehr unter den Teppich zu kehren". Die Kirche stehe im Fadenkreuz der Öffentlichkeit, der Papst selbst habe einmal gesagt, sie müsse ein "gläsernes Haus" sein, sie könne und dürfe nichts verheimlichen. Man habe, so Angerer, die "Causa Groer" nie umfassend aufgearbeitet. Es sei nicht zu verbergen, dass die St. Pöltener Vorfälle - Krenn sei ja bis zuletzt als Verteidiger Groers aufgetreten - "Spätfolgen" dieses Versäumnisses waren.
Seit 1995, dem bisherigen "Rekordjahr" an Kirchenaustritten, hat die katholische Kirche in Österreich fast eine halbe Million Mitglieder durch Austritte verloren. Die vielen Kirchenaustritte haben auch finanzielle Auswirkungen. Als durchschnittliche Kirchenbeitragshöhe wird von der Kirche der Betrag von 70 Euro pro Katholik und Jahr genannt. Welche Summe etwa 50.000 Austritte bedeuten, lässt sich ausrechnen.