Die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig konstatiert eine Zunahme der Gewaltkriminalität bei Jugendlichen aus Migrantenfamilien, und sie propagiert einen offensiven Umgang mit dem Problem der Ghettoisierung.
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Wiener Zeitung: Sie arbeiten seit 1990 als Jugendrichterin in Berlin und sind derzeit für Neukölln-Nord zuständig, das eine besondere Migrationsproblematik hat. Kirsten Heisig: In Teilen Berlins, wo sich die migrantischen Communities ausgeweitet haben, hat sich eine Kriminalität entwickelt, derer wir mit rein justiziellen Mitteln nicht mehr Herr werden. Dazu gehört ganz vorrangig Neukölln-Nord: 300.000 Einwohner, davon 35.000 türkischstämmig und 10.000 staatenlose Palästinenser. In dem Bezirk leben 88.000 Menschen, die Arbeitslosengeld beziehen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 23 Prozent, unter Migranten aber bei 60 Prozent. Das ist sozialer Sprengstoff per se. Die Hauptschulen werden überwiegend nur noch von migrantischen Kindern besucht - zu 95 Prozent, fast 100 Prozent. Fast alle ihre Eltern sind Arbeitslosengeldempfänger.
Und vor diesem Hintergrund hat sich eine neue Form der Jugendkriminalität entwickelt?
Sie ist von großer Gewalttätigkeit geprägt. Es wird nicht einfach nur etwas weggenommen, sondern der Sinn der Straftat besteht darin, Gewalt auszuüben. Früher hat eine Truppe migrantischer Jugendlicher eine oder zwei Personen umringt und gesagt: "Handy raus!" Das war´s. Jetzt beginnt dann erst das wirklich Hässliche an der Tat. Mit dem Handy kann man ein hübsches Video drehen. Das Opfer wird zusammengeschlagen, manchmal werden ihm mit Eisenstangen die Zähne ausgeschlagen, und das wird gefilmt. Dann werden andere Jugendliche herbeitelephoniert, die sich das angucken können, das Video wird weiter versendet. Das Opfer wird auch verbal erniedrigt. Oft sagen die Opfer mir, das Schlimmste sei gewesen, am Boden zu liegen und als ungläubiger Schweinefleischfresser bezeichnet zu werden.
Wann hat das begonnen?
Mit fällt es seit fünf Jahren auf, dass die Erniedrigung und das massive körperliche Attackieren in den Vordergrund gerückt sind. Nach der Erklärung dafür suche ich noch. Es wird gesagt: Weil die soziale Lage der migrantischen Familien so desolat ist, begehen sie vermehrt Straftaten. Warum man aber ein Opfer zusätzlich zum materiellen Vorteil so extrem körperlich attackieren und auch in seiner Würde herabsetzen muss, kann mir keiner erklären.
Was ist Ihre Erklärung?
Es ist eine Ghettoisierung eingetreten. Alle haben, was sie brauchen: Es gibt den arabischen Metzger, den türkischen Bäcker, Rechtsanwalt und Arzt. Man braucht nicht mehr Teil der Aufnahmegesellschaft zu werden, um vernünftig existieren zu können. Nicht, dass die soziale Lage brillant wäre - die Aufnahmegesellschaft ist hier weiter gefragt - aber ich verspüre einen beidseitigen Rückzug, eine Abgrenzung - wir sind wir und ihr seid ihr. Daraus wird die Berechtigung abgeleitet, diese Abgrenzung in herabsetzende Worte zu kleiden.
Geht das mit einer Islamisierung Hand in Hand?
Das könnte man denken. Ich bin nicht kompetent genug, das abschließend beurteilen zu können. Aber die verbale Abgrenzung ist da. Zwischen Arabern und Deutschen, Arabern und Türken. Man sagt: Der Araber steht über dem Türken und über dem Deutschen erst recht. Aber meine Jugendlichen erzählen mir nicht: "Ich gehe in eine Moschee und deshalb weiß ich, das wir besser sind als ihr." Dieses Phänomen gibt es nicht.
Nun passiert eine Entwicklung wie in Neukölln-Nord ja nicht über Nacht. . .
Man hat sie geschehen lassen. Als die Schulen 75 oder 80 Prozent Migrantenkinder hatten, wurde das noch nicht thematisiert. Als wir bei 90 Prozent waren, stand dann in den Zeitungen: "Und was machen wir jetzt?" Da wurden dann so geniale Sachen vorgeschlagen wie Bussing . . .
. . . .also das Austauschen von Kindern aus verschiedenen Vierteln mit dem Schulbus.
Das ist nicht wirklich realistisch. Jetzt will man versuchen, die Schulen zu mischen, indem man bei den Gymnasien eine Quote einführt. 30 Prozent der Gymnasiumsplätze sollen unter denen verlost werden, die etwas benachteiligt sind. Die schickt man dann ins Gymnasium, ohne dass sie räumlich oder sozial in der Nähe sind. Auch das halte ich für fragwürdig.
Privatschulen haben dann wohl noch mehr Zulauf?
Die Privatschulen schießen aus dem Boden. Es zeichnet sich eine klare Spaltung ab. Dass man die Hauptschulen abschafft und Sekundarschulen einführt, wo Real- und Hauptschule zusammengelegt sind, halte ich für richtig. Weil sonst die Hauptschule ein reines Auffangbecken ist für die mirgrantischen Kinder und das verbleibende arbeitslose Prekariat. Das kann nicht integrativ wirken.
Lässt sich die Situation in Neukölln-Nord noch ändern?
Das weiß ich nicht, aber man sollte in anderen Bezirken vermeiden, dass sich eine ähnliche Entwicklung vollzieht. Dafür braucht man ein attraktives Schulangebot, interessant für migrantische wie für nicht-migrantische Familien. Denn wenn wir die Ethnien nicht gemischt bekommen - am besten schon im Kindergarten -, dann fährt man alles an die Wand. Es beginnt in den Elternhäusern, da bauen sich die Vorurteile auf. Die migrantischen Eltern äußern sich nicht ausschließlich positiv über die Aufnahmegesellschaft. Umgekehrt ist es genauso. So ist die Auseinanderentwicklung programmiert, die in den Eltenhäusern installiert wird.
Das stimmt wohl auch für das Frauenbild.
Die Kopftuchfrage fällt natürlich in die Religionsfreiheit. Aber wenn die Kinder damit aufwachsen und dann in der Kindertagesstätte und der Grundschule der blonden Erzieherin in Minirock und Latschen sagen: "Du hast mir gar nichts zu sagen, du trägst kein Kopftuch", dann ist für ein friedliches Miteinander schon viel Boden verloren. Wir müssen Geld in intelligente Erziehungskonzepte und nicht in einzelne über die Stadt verstreute Projekte investieren. Es geht um attraktive Kindergärten und Schulen. Gemischtethnisch, also 50 zu 50 muss der Standard sein, damit die Kinder miteinander umgehen lernen, bevor sich das Vorurteil ausgepägt hat. Das kostet natürlich Geld.
Sie gehen als Richterin einen neuen Weg: Sie setzen die Schulpflicht durch.
Als Jugendrichterin komme ich an die Eltern erst heran, wenn die Straftaten begangen worden sind, und das Jugendamt mir den Lebenslauf schildert. Dann sehe ich den sozialen Hintergrund, ob die Eltern arbeiten, wieviel Kinder vorhanden sind etc. Da sind wir häufig zu spät dran. Wenn einer im Alter von 15 Jahren massive Gewaltdelikte begeht, gar nicht oder sehr selten zur Schule gegangen ist, was soll ich da machen? Da ist die Schulpflicht schon durch. Man muss auf die Familien schauen, bevor das Schulversäumnis sich verfestigt hat. Und da habe ich festgestellt, dass das Schulgesetz Bußgelder vorsieht bis zu 2500 Euro oder zwei bis sechs Wochen Erzwingungshaft, wenn die Eltern die Kinder schuldhaft nicht in die Schule schicken.
Dieses Bußgeld hat Ihnen einen Hardliner-Ruf eingetragen.
Die Möglichkeit der Bußgelder ist geltendes Recht. Es wird aber nur zögerlich angewendet, weil man sagt: "Die haben als Arbeitslosengeldbezieher ohnehin kein Geld." Aber wer über eine rote Ampel fährt, muss auch zahlen. Da ist die Schulpflicht allemal wichtiger. Und es ist ein Ansatzpunkt, wo man die Familien nicht erst kennen lernt, wenn einer mit 15 bei mir vor Gericht steht, sondern schon, wenn die Schule anzeigt, dass der Achtjährige nicht in die Schule geht und die Familie vier Wochen länger Türkeiurlaub macht. Da kann ich schon anhand des Bußgeldverfahrens sehen, wie die Entwicklung ist. Da gab es großes Geschrei: "Die Richterin sperrt die Eltern ein!" Aber es ist uns wichtig, dass ein Kind in die Schule geht. Es ist eine Pflicht, wer dagegen verstößt, muss mit Nachteilen rechnen.
Verstehen das die bildungsfernen Eltern?
Die muss man eben darauf aufmerksam machen, dass sie in einer Gesellschaft leben, in der Bildung wichtig ist. Darum führe ich Elternabende durch, um ihnen unsere Rechtsordnung plausibel zu erklären - nicht vom sozialarbeiterischen Ansatz her, sondern auch vom repressiven. Wenn man mit ihnen spricht, dann ist es nicht besonders kompliziert, das zu vemitteln. Man muss ihnen sagen, was hier anders ist. Das verstehen sie. Auch das mit den Bußgeldern. Die Irritation ist nur in meinem eigenen Umfeld, nicht bei den Migranten.
Ich kombiniere das auch mit eigener präventiver Elternarbeit, gehe zu den migrantischen Verbänden und sage: "Ich bin die böse Frau, die die Eltern bestraft, aber ich möchte mit ihnen reden, wie man das vermeiden kann. Mir geht es um das Fortkommen ihrer Kinder, damit die nächste Generation als Lehrer, Erzieher, Polizeibeamte und Jugendamtsmitarbeiter beschäftigt werden können."
Da rennt man offene Türen ein. Ich bin noch nie von den Migrantenvereinen zurückgewiesen worden. Im Gegenteil. Gerade der türkische Mittelstand sagt mir häufig: "Setzt eure Gesetze durch." Ich versuche auch immer zu betonen, dass es nicht zuletzt um zigtausende, vollkommen unauffällige und integrierte Migranten geht, die davor geschützt werden müssen, mit Intensivstraftätern in einen Topf geworfen zu werden. Deshalb ist es wichtig hinzugehen, aufzuklären und das Problem gemeinsam zu lösen.
Das machen Sie freiwiliig?
Ja, in meiner Freizeit. Anders geht´s nicht. Das ist sozusagen mein zeitaufwendiges Hobby. Ich will mir nicht sagen lassen: "Du schwingst die Keule, aber tust nichts, was den Missständen ursächlich entgegenwirkt." Doch wenn wir trotz der Durchsetzung der Schulpflicht Hinweise haben, dass das Kind weiter nicht in die Schule geschickt wird, dass kriminelle Strukturen in der Familie bestehen, dann bin ich der Meinung, dass man beim Bußgeld nicht stehen bleiben kann. Da muss das Kind aus der Familie genommen werden.
Noch mehr Härte?
Natürlich muss das Jugendamt Angebote mit Familienhilfe vorschalten. Aber bei Kindeswohlgefährdung ist eine Herausnahme aus der Familie vorzusehen. Auch das ist geltendes Recht. Wer seine Kinder in kriminellen Strukturen aufwachsen lässt, der macht sich strafbar. Darauf muss man zumindest einmal hinweisen. Hilfe ist anzubieten, Hilfe ist aber auch anzunehmen. Wir können nicht in einer Großfamilie drei Helfer einsetzen, was ein Schweinegeld kostet, und dann, wenn die Hilfe nicht angenommen wird, einfach sagen: "Bildungsfernes Elternhaus, da kann man nichts machen". Damit geben wir die Kinder auf.
Mir geht es ganz klar um das Kindeswohl. Denn jedes zweite Berliner Kind hat einen Migrationshintergrund und soll doch diese Stadt einmal gestalten, tragen, soll im positiven Sinne mitwirken. Das können wir nicht erreichen, indem wir die Kinder im Ghetto lassen, in der Hauptschule versacken lassen, in den Familien teilweise verkümmern lassen, nur um politisch korrekt zu bleiben. Das kann sich die Gesellschaft im Interesse der nachwachsenden Generation nicht erlauben.
Schon durch den Islam gibt es aber die Unterschiede in den Grundwerten. Wie kann sich das annähern?
Das kann nur aus der Community heraus geschehen. Wir können es nur vorleben und vorgeben, wie es sich in Mitteleuropa darstellt und dass das Religiöse kein Übergewicht bekommen darf. Der Konsens kann doch immer nur die Verfassung sein. Da steht alles drin, was für ein friedliches Zusammenleben der Kulturen wichtig ist. Dort ist auch die Religionsfreiheit garantiert, aber das ist kein Grundrecht de luxe. Da steht auch Gleichbehandlung von Mann und Frau, oder: niemand darf diskriminiert werden wegen seiner geschlechtlichen Neigungen. Das kann man nur vorgeben und vorleben und darauf bestehen, dass die Grundrechte das Maß der Dinge sind, die gemeinsame Schnittmenge, und nicht religiöse Einstellungen.
Schule und Bildung haben immer etwas mit Leistung zu tun. In der westlichen Welt ist das ein hoher Wert, der in der islamischen Welt nicht vorkommt.
Ich habe gedacht, dass sich das auswächst, dadurch dass die Menschen über Generationen hier leben. Normalerweise, wenn ein Mensch anderswo hin geht, lässt er seine Heimat hinter sich. Dieser Effekt ist aber nicht eingetreten. Die erste Zuwanderergeneration der Ostanatolen kam hierher und hat gedacht: "Wir arbeiten jetzt hier ein Ründchen, verdienen Geld, bauen uns dann in unserer Heimat ein Haus und fertig." Da kann man es noch nachvollziehen, dass sie sich nicht integriert haben. Wozu man sagen muss: Sie haben sich durchaus an unsere Rechtsordnung gehalten. Aber sie gingen nicht zurück. Bei der zweiten und dritten Generation, mit denen wir jetzt die Probleme haben, fangen wir immer wieder von vorne an mit der Integration, weil die türkischen Jungs von zu Hause teilweise mitbekommen: "Du heiratest eine Frau aus Ostanatolien". Da kommt dann ein im besten Fall 18-jähriges Mädchen, häufig werden sie älter gemacht als sie sind. Und sie fängt wieder bei Null an. Sie kommt aus der bildungsfernen Struktur und wird auch häufig von der deutschen Gesellschaft fern gehalten, weil die Schwiegermutter das so will. Das zu knacken, ist für uns unglaublich schwierig. Es ist so schwierig, an diese Familien heranzukommen, weil es nicht erwünscht ist, dass wir herankommen.
Und die türkischen Mädchen, die hier geboren sind?
Diese Mädchen machen sich den Umstand, dass sie viel zu Hause sind, zu Nutze und lernen viel. Sie galoppieren ihren Brüdern leistungsmäßig davon, dadurch entsteht bei den Jungs ein doppeltes Problem. Sie haben nicht mehr die Väter als Identifikationsmodell, weil die arbeitslos sind und aus der Familie verschwinden - entweder ganz oder ins Teehaus. Und dann müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass ihre Schwestern schulisch erfolgreich sind, viel häufiger Abitur machen und auf den Universitäten erscheinen, wenn die Eltern das erlauben. Das macht für die Jungs ein doppeltes Problem. Was die Sache nicht vereinfacht.
Wie auch bei uns, liegt in Deutschland zwischen einer Jugend-Straftat und der Verhandlung oft ein halbes Jahr. Sie haben das geändert.
Wenn einer vor drei Wochen einen Ladendiebstahl begangen hat, dann bei der Polizei war und jetzt eine Windschutzscheibe eintritt und außerdem aus einer Familie kommt, wo sowieso schon alle im Knast sitzen, braucht man schnell eine Maßnahme. Bei klarer Beweislage wird er vernommen, dann ruft der Polizist den Staatsanwalt an, der mir zugegeben ist, und der gibt sein Okay. Dann geht ein Bote vom Staatsanwalt zu mir mit der Bitte, ein beschleunigtes Verfahren durchzuführen. Zeitgleich schaltet er das Jugendamt ein. So haben wir keinen Zeitverlust durch Ermittlungen, durch Schreib-Staus bei der Staatsanwaltschaft, sondern alles kommt per Anruf und per Boten ganz schnell zu mir.
Sie umgehen also den langsam arbeitenden großen Apparat.
Ja, wir haben kleine Einheiten, die Face to face arbeiten. Da geht nicht so viel Zeit in den Strukturen verloren. Weil es ein kurzes, kleines Verfahren ist, kann ich es an einen meiner Verhandlungstage noch anfügen. Mache ich einfach eine halbe Stunde länger, auf die kommt es auch nicht mehr an. Dadurch ist es gelungen, auf drei Wochen Abstand bis zum Verfahren zu kommen. Das hat einen ungeheuren Effekt.
Der worin besteht?
Da hat man noch eine ganz andere Situation zwischen Täter und Opfer. Die Empathie ist noch da, die emotionale Verbindung und die erinnerungsmäßige Verknüpfung zur Tat sind bei beiden noch vorhanden. Die können noch ganz anders miteinander reden. Also entfaltet auch die Gerichtsverhandlung einen erzieherischen Effekt. Dann sagt man im Urteil: "Ich weise Dich jetzt an, zur Schule zu gehen". Da sagt der: "Okay, alles wie immer, mach ich nicht." Da nehme ich Kontakt zur Klassenlehrerin auf, gebe ihr meine Handynummer und sage: Wenn Ali morgen nicht kommt, möchte ich auf meiner Mailbox eine Nachricht haben, dass er nicht da war. Dann hat er drei Tage später eine Anhörung bei mir, und dann schicke ich ihn in den Beugearrest. Das kann ich x-mal machen, bis ich vier Wochen ausgeschöpft habe, und bis er es kapiert hat - oder auch nicht.
Aus dem Urteil folgt also direkt etwas. Wenn ihm die Lehrerin sagt: "Du musst in die Schule kommen oder Du kommst in den Arrest", dann ist er erst einmal beklommen und fragt sich: "Woher weiß die das?" Dass der Richter und der Lehrer miteinander kommunizieren, ist außerhalb seiner Vorstellungskraft.
Aber es hat sich herumgesprochen?
Sehr schnell. Und der Effekt bei den Schülern ist erheblich. Auch die Lehrer fühlen sich in ihrer Autorität unendlich gestärkt. Sie sind ja fast ohne Möglichkeit, noch irgendetwas Disziplinarisches zu tun. Ob die Schüler einen Eintrag ins Klassenbuch bekommen oder von der Schule versetzt werden, interessiert die doch gar nicht. Wir haben schon eine Art Wanderpokal unter all den Schülern, die von einer Schule zur andern wandern, weil jeder sie loswerden will. Dementsprechend froh sind die Lehrer über so eine Handhabe. Sie können dann natürlich auch mit den Eltern und Schülern verhandeln, diese Freiheit haben die Lehrer. Wenn sie signalisieren, dass es nach einer gerichtlichen Anhörung besser läuft mit dem Schulbesuch, kann von der Arrestvollstreckung abgesehen werden. Außerdem ist sichergestellt, dass auch aus der Arrestanstalt heraus die Schule besucht werden kann. Aber die Lehrer haben durch meine Ansprechbarkeit und schnelle Reaktion ein Druckmittel. Bedacht werden muss dabei aber, dass wir als Jugendrichter nur im Spiel sind, wenn der Schüler eine Straftat begangen hat.
Das ist nachgerade revolutionär.
Es sind Ansätze, Mosaiksteine, kleine Beiträge. Ich glaube, man kann mit vielem kreativer umgehen, als es gemeinhin getan wird. Jede beteiligte Institution beschuldigt andere, irgendwas falsch gemacht zu haben - die Justiz schiebt es aufs Jugendamt, das wieder auf die Schule, die Schule auf die Politik, die Politik auf die Migranten und die Migranten aufs System. Das bringt ja alles nichts. Wenn jeder selber schauen würde, wo das Problem liegt und wie er mit seinen Möglichkeiten die Arbeitsergebnisse verbessern kann, dann kämen wir einen großen Schritt weiter. Ich versuche das und arbeite deutlich zufriedener. Darauf kommt es auch an: Zufriedene Menschen arbeiten besser als unzufriedene. Natürlich habe ich den Tanker nicht gewendet, aber man macht mehr aus seinen eigenen Möglichkeiten und arbeitet selber besser und erzielt Effekte.
Verhältnisse wie bei Ihnen würden in Österreich Wahlkämpfe noch ärger an der Zuwandererfrage hochkochen lassen. Emotionalisieren Ihre Parteien nicht die Wähler damit?
Das brauchen unsere Parteien nicht. Die Wahlen in Berlin werden im Osten entschieden. Und dort hat man dieses Problem nicht. Also wird es nicht thematisiert.
Zur Person
Kirsten Heisig: Sieht man die zarte 48-Jährige mit dem offenen Lächeln, dann will diese Erscheinung nicht zu ihrem von den Medien verpassten Etikett passen: "Richterin Gnadenlos". In Berlin sind die Jugendrichter Bezirken zugeteilt. In ihren 20 Jahren Berufspraxis hat Heisig alle möglichen "Klienten" gehabt - die jungen Rechtsradikalen, die Jeunesse dorée und seit 1991 eben die Zuwandererkinder der ersten bis dritten Generation. Berlin-Neukölln: ein Viertel, das sie bereits für verloren hält. Doch Kirsten Heisig hält dagegen. Die Jungen will sie nicht verlieren. Sie brachte Tempo in die Justiz, sie nimmt die Eltern in die Pflicht, wenn es um die Schulbildung geht. Sie verlangt, dass Recht und Pflichten der Aufnahmegesellschaft akzeptiert werden.
Damit ist Kirsten Heisig in ganz Europa zu einer begehrten Auskunftsperson geworden. Überall wo man Multi-Kulti und Wegschauen als den falschen Weg in der Integrationspolitik erkennt, wird sie eingeladen und konsultiert - wie in Wien von der VP-Stadträtin Isabella Leeb. Wo es um die Zukunft geht, hält Heisig Political Correctness für gefährlich. Die Mutter zweier Kinder nennt die Dinge beim Namen - auch in der Aufklärungsarbeit bei migrantischen Eltern und in islamischen Vereinen, wohin sie ihr Verantwortungsgefühl sogar in ihrer Freizeit bringt. Für so manchen jugendlichen Delinquenten ist es wohl eine Gnade, der Richterin Gnadenlos begegnet zu sein.
Ruth Pauli lebt in Wien und ist als Autorin von Sachbüchern und als freie Journalistin für Printmedien tätig.