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New York - Seit dem Tag, der die Welt veränderte, fuhr der pensionierte Feuerwehrmann Lee Ielpi jeden Morgen zum Trümmerberg des World Trade Centers in New York. Er holte sein Werkzeug ab und begann Schutt wegzuräumen. "Ich werde meinen Sohn finden", sagte er immer wieder. Endlich, am 91. Tag nach dem 11. September 2001, hob ein Baukran die zertrümmerte Betonplatte über einem Treppenschacht in die Höhe. Die Leichen mehrerer Feuerwehrmänner der Brigade 288 wurden geborgen, unter ihnen die von Jonathan Ielpi. Er war 29 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Söhnen. "Als wir ihn endlich fanden, wurde eine riesige Last von der Familie genommen", sagt Lee Ielpi. Doch auch nach der Beerdigung seines Sohnes zieht es den Feuerwehrveteranen immer wieder zu dem Trümmerberg im Süden Manhattans. Er will sich nützlich machen bis das letzte Opfer der Terroranschläge geborgen, bis der letzte Stein abgetragen ist. Das ist seine Art, mit dem Schmerz fertig zu werden.
Rosy Valdez, die ihren Mann verlor, könnte das nicht. Den Anblick der klaffenden Wunde mit dem Namen Ground Zero kann die Einwanderin aus Puerto Rico nicht ertragen. "Ich mache den Fernseher nicht mehr an", sagt sie. "Immer wieder zeigen sie Ground Zero. So kann man keinen Frieden finden."
Zehntausende andere zieht das Ruinenfeld magisch an. Sie pilgern aus allen Ecken der USA an den Ort des Grauens. Souvenirhändler machen hier gute Geschäfte mit amerikanischen Flaggen, Bildern der WTC-Türme und T-Shirts mit dem aufgedruckten Steckbrief des wegen Massenmordes gesuchten Osama bin Laden. Wieder und wieder muss Reiseführer Chris Mason Touristen erzählen, wie das war, als die Flugzeuge in die Zwillingstürme rasten. Und auch, was Ground Zero eigentlich bedeutet: "Dieser Militärbegriff beschreibt den Bodennullpunkt, über dem eine Atombombenexplosion stattfindet."
Auf den ersten Blick sieht das Leben im "Big Apple" längst wieder so bunt und geschäftig aus wie früher. Doch kein Tag vergeht, an dem die New Yorker nicht an den 11. September erinnert werden. Wer hier lebt, kann nicht vergessen: Wer am Grand Central Terminal umsteigt, sieht nicht nur die Weihnachtsdekoration, sondern auch die große Wand mit den blumengeschmückten Fotos der "Vermissten", von denen jeder weiß, dass sie tot sind. Wer in die Schaufenster der Buchhandlungen sieht, findet ein Dutzend Bildbände mit Titeln wie "Das World Trade Center wie es einmal war" oder "Gefallen im Einsatz: Die Helden der Feuerwehr". Wer über den Times Square schlendert, sieht auf riesigen Videowänden den Krieg in Afghanistan. Wer am Sitz der Vereinten Nationen vorbei kommt, am Rathaus, an der Börse oder am Busbahnhof, der sieht die Absperrungen und die Männer der Nationalgarde.
Unübersehbar sind auch die Menschenschlangen vor Dutzenden Suppenküchen. In den Monaten nach den Terroranschlägen sind sie länger und länger geworden. Mehr als 80.000 Arbeitsplätze sind als direkte oder indirekte Folge der Zerstörung des WTC verloren gegangen, vor allem schlecht bezahlte Jobs im Dienstleistungsgewerbe. Inzwischen haben die meisten Betroffenen ihre Ersparnisse aufgezehrt. Die karge Sozialhilfe reicht kaum für die Miete in den Bruchbuden der Bronx.
Gelder aus Spendentöpfen gibt es für Hinterbliebene von Opfern, vor allem für Familien von Feuerwehrleuten und Polizisten. Wer keinen Angehörigen, sondern "nur" den Job verlor, hat es schwer, an Hilfszahlungen heranzukommen. Neue Arbeitsplätze sind rar in Zeiten der Rezession, die schon lange vor dem 11. September begann. Kurz vor Weihnachten schlugen kirchliche und private Hilfsorganisationen Alarm: Bis zu einer Million New Yorker seien mittlerweile von Suppenküchen oder Lebensmittelmarken abhängig. Mit dem "Hungernotstand" fertig zu werden, schrieb die "New York Times", "ist die mit Abstand größte Herausforderung für (den neuen Bürgermeister) Mike Bloomberg".