Im Amazonas wird das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt gebaut.
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Brasília. Seit mehr als 20 Minuten fliegt die brasilianische Embraer EMB-820 Twin-Prop nun schon südöstlich über der Stadt Altamira im brasilianischen Norden. Hinter dem Fenster eine faszinierende grüne Flusslandschaft, Flussadern schlängeln sich durch den Dschungel, Flussarme teilen sich und finden wieder zusammen, ein verästeltes, verzweigtes Gewirr an Wasserläufen. Sattes Grün, leuchtendes Blau und ab und zu das Glitzern der Sonnenstrahlen, die sich auf der Wasseroberfläche spiegeln.
Und dann klafft da plötzlich diese Wunde im Regenwald, eine riesige Baustelle gigantischen Ausmaßes: Dämme, ein breiter Kanal, der quer durch den Regenwald ausgehoben wird, eine richtige mittelgroße Stadt für die tausenden Arbeiter, die für das Projekt arbeiten. Der Pilot der Propellermaschine fliegt über fast 30 Minuten eine ausgedehnte Schleife, um das ganze Ausmaß des Projekts zu zeigen.
Das "Projekt" ist die Hydroelektrische Anlage Belo Monte, ein 11-Milliarden-Dollar-Damm am Xingu-Fluss, der zum Amazonas-Flusssystem gehört. Über drei Talsperren soll der Fluss zu zwei Stauseen mit einer Fläche von zusammen etwa 500 km² aufgestaut werden, entsprechend in etwa der Größe des Bodensees. 20.000 bis 40.000 Menschen müssen umgesiedelt werden, nach seiner Fertigstellung soll das Wasserkraftwerk potenziell mehr als elf Gigawatt Elektrizität liefern und wäre damit leistungsmäßig - nach dem Drei-Schluchten-Damm in der chinesischen Provinz Sichuan und dem Wasserkraftwerk Itaipú an der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay - das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt.
130 Millionen Kubikmeter Erdreich werden bewegt, um den Kanal zu graben, der die Volta Grande-Schleife des Xingu-Flusses abkürzen wird. Ist die erste Stufe von Belo Monte erst gebaut, ist so gut wie ausgemacht, dass weitere Staustufen errichtet werden. Denn ohne diese Fluss-Sperren würde das Kraftwerk in der Trockenzeit nur etwa ein Drittel der geplanten Leistung erreichen.
Die Turbinen und Generatoren stammen von der steirischen Firma Andritz, der Wert der Aufträge beträgt rund 330 Millionen Euro. Dies und die Tatsache, dass der sehr rührige, aus Vorarlberg stammende katholische Geistliche Erwin Kräutler Bischof der Diözese Xingu ist, hat das Projekt nicht nur in Österreich in den Schlagzeilen gehalten. Für Umweltschützer und Grün-Aktivisten ist der Kampf gegen Belo Monte eine der wichtigsten Kampagnen derzeit.
Die Umweltaktivistin
Also haben sich grüne Abgeordnete des Europaparlaments - Ulrike Lunacek, Catherine Greze und Eva Joly - nach Brasilien, unter anderem in die gleich in in der Nähe der Kraftwerksbaustelle gegelegene Stadt Altamira begeben, um sich in einer Fact-Finding-Mission ein Bild von der Lage zu verschaffen. Sie hören der Umweltaktivistin Antonia Melo zu, die seit vielen Jahren gegen das Projekt ankämpft. Melo lädt ins Haus der von ihr geführten Organisation Movimento Xingu Vivo para Sempre, wo Indio-Aktivisten und Bewohner, die durch das Kraftwerk von Absiedlung bedroht sind, ihren Ärger über den das Projektkonsortium Norte Energie lautstark kundtun. Die Projektgegner sprechen von Vertreibung, Entzug der Lebensgrundlagen, Zerstörung des Urwalds, sie klagen über Prostitution, die von den Arbeitern der Baustelle genährt wird und von der Zunahme von Alkoholismus und Kriminalität in Altamira.
Altamira hat seit dem Beginn des Kraftwerksbaus eine beispiellose Bevölkerungsexplosion erlebt. Tausende kamen in der Hoffnung, Arbeit zu finden. Die Stadt ist von rund 83.322 Einwohnern im Jahr 2004 auf heute über 120.000 Einwohner angeschwollen. Die Mieten in der Stadt steigen, die städtischen Infrastruktursysteme - Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, Stromnetz, Schulen und Spitäler - sind völlig überlastet. "Das Projekt hat Altamira nur Probleme gebracht", sagt Umweltaktivistin Antonio Melo.
Nach der Gemeindeversammlung führt Melo in ein Viertel von Altamira, das - wenn das Kraftwerk erst fertiggestellt ist - vollständig überflutet sein wird. Tausende müssen von dort abgesiedelt werden und sollen in propere Unterkünfte ziehen. Ein Gewinn, möchte man angesichts der sauberen Modellsiedlung, die das Kraftwerkskonsortium Norte Energia S.A. für die Bewohner der Bretterbuden im nicht besonders attraktiven Überflutungsviertel gebaut hat, meinen. "Weit gefehlt", meint Melo. Die Menschen würden die Holzunterkünfte den Zementbauten vorziehen, die seien luftiger und das Klima sei darin besser. Zudem sei die Norte-Energia-Siedlung einfach zu weit vom Stadtzentrum entfernt.
Um das Ausmaß des Projekts gänzlich zu begreifen, besteigt man am besten ein Schnellboot und fährt tief in das Flusssystem des Xingu-Flusses hinein. Nach mehreren Stunden zuerst durch ruhiges Gewässer, dann durch gefährliche Untiefen voller Strudel und Stromschnellen, gelangt man zum Dorf Paquiçamba, am südlichen Zipfel der Volta-Grande-Schleife des Xingu-Flusses.
Wer sich in Paquiçamba Primärwald erwartet und Indio-Romantik, wird enttäuscht. Die Gegend ist längst gut erschlossen, Autos und Motorräder kurven über die schmalen Staubpisten.
Amazonien ist seit vielen Jahren das Hoffnungsgebiet für den wirtschaftlichen Aufstieg Brasiliens, die Transamazônica-Straße soll, wenn sie einmal fertig ist, die Atlantik- und Pazifikküste Lateinamerikas ungefähr auf Höhe des Äquators miteinander verbinden und somit von Brasilien nach Peru führen. Ein Teil der Strecke im Herzen Amazoniens wurde schon in den 1980er Jahren fertiggestellt, ist aber bereits wieder überwuchert. In der Region um Altamira soll die Straße nun asphaltiert werden, was von den indigenen Völkern sehr kritisch gesehen wird. Die Vertreter der indigenen Völker argumentieren, dass die Straße vor allem den Minengesellschaften nützt und den Holzhändlern, sie führt zur verstärkten Nutzung der Region für den Soja-Anbau und die Viehzucht, sagen sie.
Bei Marizan Claudio Juruna und seiner Familie gackern ein paar Hühner auf dem Hof. Juruna und seine Familie leben in Paquiçamba von der Fischerei, einem kleinen Acker und ein paar Hühnern.
Doch mit der Fischerei könnte es bald vorbei sein. Schon bevor das Kraftwerk fertig ist, wird der größte Teil des Flusses durch den Kanal Richtung Staumauer abgeleitet sein, die rund 100 Kilometer lange Volta-Grande-Schleife wird dann nur mehr einen Bruchteil des Wassers von heute führen. Wie sich das auf die Fischerei auswirken wird, kann Juruna sich noch nicht vorstellen, das Trinkwasser ist jedenfalls heute schon nicht mehr genießbar. Juruna und seine Familie sind auf Trinkwasserlieferungen aus einem Tanklaster angewiesen.
Der Staatsanwalt
In Belém, der Hauptstadt der Provinz Pará, berichten Felicio Pontes und Thais Santi, Staatsanwälte des Bundesstaats Pará von Auflagen, die vom Errichter-Konsortium nicht eingehalten werden und von vielen Unregelmäßigkeiten. Die Umweltbehörde Ibama habe zwar als Voraussetzung für die Genehmigung des Megastaudamms 2010 vierzig Auflagen erlassen, in denen die Rechte der Indigenen eingemahnt, Entschädigungen für die Betroffenen vorgesehen und eine Begrenzung der Umweltfolgen dekretiert wurden. Aber allzu oft sei einfach weitergebaut worden, auch wenn nicht alle Auflagen eingehalten worden seien. Besonders sauer stößt den Juristen auf, dass bestimmte Rechte der Indios einfach mit einer Art Notverordnung außer Kraft gesetzt worden sind. Die in Norwegen geborene grüne Abgeordnete Eva Joly, die als Untersuchungsrichterin die Elf-Aquitaine-Schmiergeldaffäre aufdeckte (im Jahr 2002 wurden 30 zum Teil höchstrangige Politiker und Manager verurteilt), berät mit ihren grünen Kolleginnen nun Wege, um der brasilianischen Justiz von Brüssel und Straßburg aus den Rücken zu stärken, ohne bei den Behörden vor Ort allzu sehr den Eindruck einer Einmischung in innere Angelegenheiten zu erwecken. "Norte Energia versucht, hier ein Fait accompli herzustellen. Sie treiben den Bau voran, bis nichts mehr sie stoppen kann", sagt die Europa-Abgeordnete Eva Jolie.
Die Kraftwerksbetreiber
Die österreichische Grün-Abgeordnete Ulrike Lunacek hat sich in Altamira vergeblich bemüht, Vertreter von Norte Energia, der Errichtungs- und Betreibergesellschaft, zu treffen. Sie wurde freundlich empfangen, mit ihr reden wollte niemand. Erst der österreichischen Botschafterin in Brasília, Marianne Feldmann, ist es gelungen, ein informelles Treffen zwischen Lunacek und Clarice Copetti, zuständig für die Beziehungen zu offiziellen Kontakten in und außerhalb Brasiliens, herzustellen.
Copetti preist im Gespräch die Vorzüge des Kraftwerksbaus: Brasilien benötige Energie, das Land, so groß wie ein ganzer Kontinent benötige Strom, um seine Entwicklung voranzutreiben. Norte Energia habe alles unternommen, um die Umwelt zu schonen und die Rechte der Anwohner zu respektieren.
Copetti sagt es zwar nicht, von Seiten der Befürworter des Projekts werden Europäer aber immer wieder daran erinnert, dass Europa von Kulturlandschaft geprägt sei und fast alle größeren Flüsse des Kontinents alle hundert Kilometer aufgestaut seien.
Lunacek sagt, Brasilien müsse an Alternativen zu Mega-Projekten denken. Zu viel Energie gehe im veralteten Stromleitungsnetz verloren, zu viel Energie werde durch uneffiziente Anlagen und Geräte vergeudet. "Warum nutzt Brasilien nicht Windenergie oder die Sonne?", fragt Lunacek. Die Potenziale seien enorm. Das größte Problem sei aber die mangelnde Kommunikation, "man muss mit den Betroffenen reden und sie informieren", apelliert die grüne EU-Abgeordnete.
Die Protestbewegung
Nicht weit von der österreichischen Botschaft in Brasília entfernt haben Demonstranten ein Zelt-Dorf vor dem Präsidentenpalast von Dilma Rousseff errichtet. Vor einigen Wochen zogen Demonstranten durch die brasilianischen Mega-Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo und auch durch Brasília. Es waren vor allem junge Leute, die die Proteste angeführt haben. Mit der traditionellen Politik wollen die Demonstranten nichts zu tun haben. Sie protestierten gegen Korruption, steigende Preise, mangelnde Mitsprache und die stetig sich öffnende soziale Schere. Belo Monte war - wenn auch am Rande - ebenfalls Thema.
Vielleicht erlebt Brasilien gerade seinen Zwentendorf- und Hainburg-Moment.