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Schon zu Lebzeiten ist er ein berühmter Autor. Und er ist es noch heute. In seinem Werk fehlen häufig die Mütter wichtiger Figuren, als seien die gleichsam aus dem Himmel gefallen. Viele brutale Prügelszenen kommen in seinen Büchern vor. Über seine frühe Lebensphase schrieb er einmal: "Durch die Kinderjahre hindurchgeprügelt." Ob das autobiografisch gemeint ist, weiß man nicht. Im Spätwerk schließlich schwenkt er um auf das allegorische Schreiben. Die Rede ist von Wilhelm Busch (1832-1908).
Ach, Sie haben an Karl May (1842-1912) gedacht, weil all das auf ihn zutrifft? Sehr verständlich! Zu anderen Autorenkollegen gibt es weitere Parallelen, so zum Lyriker Friedrich Rückert (1788-1866). Der Orient als bedeutendes Thema, die deutschtümelnde Gemütlichkeit und Heimeligkeit, die Vielschreiberei. Und dann verbindet sie ein trauriges Schicksal: May- wie Rückert-Texte wurden von späteren Herausgebern unerhört stark verändert und eigenmächtig gekürzt.
Noch auffälliger sind die Verbindungen zu Friedrich Schiller. Um sich beim Produzieren wach zu halten, sind Schiller wie May maßlose Kaffee-Trinker und Tabak-Freunde. Damit geraten sie in zeitweiliges Trance-Schreiben, und so verwundert es nicht, dass beide manchmal ganz in die Welt ihrer Schöpfungen versanken.
Die Qualität des Schiller’schen Werks war schon im 19. Jahrhundert - obwohl es an Kritikern nie mangelte - anerkannt. Dorthin strebte auch May. Jedesmal, wenn er zu schreiben begann, fiel sein Blick auf einen Zettel, den er über seinem Schreibtisch angebracht hatte. Darauf stand:
"Die Gestalten klar, hell, rein, und groß<br style="font-style: italic;" /> Vermeide harte, grelle, schmerzhafte Lichter<br style="font-style: italic;" /> Klassische Formen, in erhabener, abgeklärter Ruhe<br style="font-style: italic;" /> Flimmere nicht! Sei nicht theatralisch!<br style="font-style: italic;" /> Schlichte Wahrheit!<br style="font-style: italic;" /> Hüte dich zu schulmeistern!"
Der verhinderte Lehrer
Gerade das aber tat May sein Leben lang: schulmeistern! Durch Vergehen in jungen Jahren scheiterte allerdings die erträumte offizielle Lehrerlaufbahn nach kürzester Zeit. Kleineren Entwendungen als Seminarist und Junglehrer folgten erste Verurteilungen, Entlassung aus dem Schuldienst, dann größere Diebstähle, Betrügereien, Flucht aus Polizeigewahrsam und eine Karriere als Strafgefangener von über acht Jahren.
May blieb der Berufung zum Lehramt im Herzen trotzdem treu und bewies, wie ernst es ihm damit war, nach der langen, langen Gefängniszeit erst als Zeitschriftenredakteur und dann in Büchern. "Geographische Predigten" waren das oft, um einen seiner Titel zu erwähnen, in denen man viel über fremde Länder und Völker erfahren konnte. Wichtiger noch waren seine klugen, stets lehrbereiten Helden. Sie überführen selbst die größten internationalen Experten kurioser Irrtümer, legen den Koran geschickter aus als jeder Mufti und unterrichten ihre Reisekameraden, ob jung oder alt.
Geflügelte Worte
Wegen seiner pädagogischen Ader finden sich in Mays Geschichten unendlich viele rhetorische und wirkliche Fragen, dazu massenhaft Lehrsätze und Sprichwörter. Eine kleine Auswahl gefällig? "Gedanken kommen nicht in der Weise und in der Masse wie Mücken aus der Pfütze." "Ein Weib redet, ein Mann aber handelt." "Ein hastiger Renner ist nicht immer das schnellste Pferd." "Eine wilde ungezügelte Tapferkeit gleicht der Wut des Büffels, der blind in den Tod rennt." "Ein Feind mit Verstand ist besser als ein Freund ohne Verstand." "Die Liebe ist nämlich der Senf für die Pfeffergurke des Lebens. Das eine ist ohne das andere nicht zu verdauen." "Der Schakal heult die Sterne an, diese aber hören es nicht und leuchten fort." "Die Mauern sind stets härter als die Köpfe." "Kein Mensch kann ewig leben." Die Liste ließe sich ins Unendliche fortführen.
Parallelen zu Schiller
Da fällt einem natürlich wieder Friedrich Schiller ein und dessen Sentenzen-Seligkeit. Er stützte sich übrigens beim Schreiben, genau wie Karl May, fast ausschließlich auf seine Phantasie und Bücher. Schiller war nie in der Schweiz, in Spanien, Russland, Italien, England, Frankreich, obwohl seine Dramen dort spielen. Und auch May reiste bis 1899 nur mit dem Finger auf der Landkarte durchs wilde Kurdistan, die Kordilleren oder den Llano Estacado. Schiller und May mischten außerdem genial bereits vorhandene Motive, Gestalten und Themen neu, zitierten hemmungslos und schöpften ohne Bedenken aus zahlreichen Quellen. Allerdings schufen sie mit ihrer Art "copy and paste" oder eben mittels kluger Recherche aus fremden Werken eigene Welten.
Es sind Welten, in denen das Gute - so will es beider Idealismus - letztlich triumphiert. Doch ohne Zweifel begeistern sich beide besonders für Verbrechen und ihre Täter, für, wie Schiller sagt, "außerordentliche Menschen", "Geister, die das abscheuliche Laster reizet, um der Größe willen, die ihm anhänget". Vielleicht auch, weil sie selbst Ex-Verbrecher waren - Schiller als Deserteur, May als Kleindieb und Trickbetrüger.
Der wichtigere Grund war aber wohl, dass ihnen an der Wirkung ihrer Werke alles gelegen war. Also griffen sie tief hinein in die Trickkiste, um die Zuschauer- und Leserherzen im Sturm zu nehmen. Schon die frühe Prosa Schillers im "Geisterseher" kennt grelle Effekte, genauso "Die Räuber", "Fiesco" und "Die Jungfrau von Orleans", wo große Grausamkeit, rührselige Szenen, pompöser Opernzauber, Donnerschlag und Geistererscheinung vorkommen. Das provozierte häufig genug den Vorwurf, der Klassiker bemühe allzu unbeschwert Kitsch und Kolportage.
Ernst Bloch bewertet die Vorliebe des Klassikers für die Kolportage positiv: "Schiller hatte Interesse für alles, was an einem Galgen hart vorbeistreifte oder dort hängen blieb." Das klingt doch fast wie eine Beschreibung des eher kleingewachsenen Sachsen mit seinen großsprecherischen Helden.
Mays Produktivität
Karl May soll nun nicht zum Klassiker stilisiert werden, aber sein achtbarer Standort inmitten der Literatur seiner Zeit ist unbestreitbar. Ein reiner Trivialschriftsteller, was ihm manch ein Leser oder Wissenschafter vorwirft, ist er keineswegs. Das unglaublich vielgestaltige Gesamtwerk - über hundert Bände in der historisch-kritischen Ausgabe - hat kaum jemand im Blick. Da stehen Abenteuerromane für die gymnasiale Jugend wie "Die Sklavenkarawane" oder "Der Schatz im Silbersee" neben Kolportage-Mammutwerken wie "Das Waldröschen" oder "Deutsche Herzen - Deutsche Helden", und dann gibt es noch die berühmten "Reiseerzählungen" wie "Durch die Wüste" oder "Winnetou", von Dramen wie "Babel und Bibel" oder den allegorischen Spätromanen wie "Ardistan und Dschinnistan" zu schweigen.
Bemerkenswerterweise ist Karl May einer der wenigen deutschsprachigen Autoren des 19. Jahrhunderts, die heute noch außerhalb von Schule und Hochschule intensiv, vor allem freiwillig gelesen werden. Mays Beliebtheit bis ins 21. fußt auf seinem Erfolg im 19. Jahrhundert. Er begann um 1875 zu schreiben, in einer Zeit, da der literarische Markt Autoren benötigte. Die Zahl der Lesefähigen wuchs stetig, die Freizeit breiter Bevölkerungsschichten und ihr Bildungsanspruch ebenso. Den entscheidenden Schritt, Mays Zukunft zu sichern, unternahm wohl der Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld, welcher eine Buchausgabe der bislang nur in Fortsetzungen und Lieferungen erschienenen Geschichten veranstaltete. Der Markenartikel "Karl May" wurde mit den schon damals grünen Bänden geboren.
Spuren lesen
Die Grundstruktur seiner erfolgreichsten Geschichten ist die einer einzigen großen Verfolgung in einer Reihe von kleinen Verfolgungen, und immer wird ein Verbrecher entlarvt und bestraft. Man hat Mays Werke deshalb mit Detektivgeschichten verglichen, und tatsächlich kommen bei ihm viele der investigativen Techniken vor: Spuren lesen, Beschatten, Lauschen, Leute be- und ausfragen, Schlüsse ziehen.
Karl May bediente sich dabei sowie in Personal, Motivik, Schauplätzen, Handlungsverlauf bei den erfolgreichen Kollegen James Fenimore Cooper (1789-1851), Eugène Sue (1804-1857) und Gabriel Ferry (1809-1852). In virtuoser Weise nutzte er sie und die beliebten Genres seiner Zeit, deren klare Vorgaben ihm Produktion wie Erfolg entschieden erleichterten. Karl May vermochte es erstaunlicherweise, seine Phantasieanfälle in den Dienst professionellen, streng am Bedarf orientierten Schreibens zu stellen. Vor allem kannte May sein Publikum sehr genau.
Für Pustets katholische Zeitschriften lieferte May überzeugend missionarisch-moralisierende Abenteuergeschichten, in den Kolportageheftchen für den Verleger Heinrich Gotthold Münchmeyer setzte er dafür auf "sex and crime", und gleichzeitig achtete er im Schreiben für die beliebte Gymnasiasten-Zeitschrift "Der Gute Kamerad" auf jugendverträgliches und -förderliches Schreiben.
Bei solch kundenorientiertem Schreiben hat man außer finanziellen Gründen auch das maßlose Bestätigungsbedürfnis Karl Mays zu bedenken. Einmal zum Markenartikel geworden, durfte er allerdings nicht mehr abweichen von den gewohnten Helden und Strukturen. Tat er es dennoch, wie in seinem Spätwerk, kauften die Leser seine Bücher nicht.
Um seine Leser mitzunehmen auf die Reise ins Bekannt-Unbekannte, setzte May schon sehr früh auf Identifikationsfiguren, deren wichtigste "Ich" heißt. Im Gegensatz zu so vielen Abenteuerschriftstellern schrieb May seine Geschichten nämlich zum einen oft in der ersten Person und zweitens, erst zögerlich, dann immer deutlicher mit Transparenz auf sein biografisches Ich: "Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle." So behauptete der Autor es eine Reihe von Jahren. Und die Leserscharen, die Medien glaubten ihm.
Star und Supermann
Wie May dazu kam, sich derartig zu produzieren, ist eine eigene Geschichte. Die Leser, immer noch vornehmlich Erwachsene, erlebten in und mit ihm jedenfalls einen realen Supermann und verehrten ihn als einen Star. So wie dieses "Ich" wollte man auch sein, denn seine Fähigkeiten sind enorm in Quantität und Qualität. Vollbringen die Ich-Helden auch schier Unglaubliches, bleibt stets die wichtige Möglichkeit, es könne tatsächlich so gewesen sein.
In den Abenteuergeschichten streift May zwar oft das Märchenhafte, doch verlässt die Handlung niemals den Raum des Denkbaren. Auf diese Weise verführte er Millionen Unbekannter, dazu Berühmtheiten wie Heinrich Mann, Franz Kafka, Egon Erwin Kisch, Carl Zuckmayer, Thomas Mann, Arno Schmidt. Dass auch Adolf Hitler ihn verehrte, lässt sich allerdings nur mit einer sehr einseitigen Lektüre des Diktators erklären, erwies sich doch May, je älter, je mehr, als einer, der sich mächtig für den Pazifismus engagierte, dessen Helden sich barmherzig und verständnisvoll tolerant allen Rassen gegenüber zeigten. Noch sein letzter, begeistert aufgenommener Vortrag, den er wenige Tage vor seinem Tod am 22. März 1912 in Wien hielt, warb für die Veredelung des Menschen und den Weltfrieden.
Wie es heute um Mays Leser steht, ob er noch eingeschworene Fans hat? Stark zu vermuten, aber schwer zu beweisen. Auch die seit fünf Jahrzehnten besonders rührig forschende Karl-May-Gesellschaft, welche die historisch-kritische Werkausgabe herausgibt, hat dazu keine exakten Erkenntnisse. Konkretes könnte der Karl-May-Verlag in Bamberg sagen, aber er erzählt ungern etwas über Verkaufszahlen.
Selbst wenn die gering ausfielen, belegten sie nicht viel, kann man doch von einer, zumindest nominellen Sättigung deutschsprachiger Haushalte mit May-Werken ausgehen. Schließlich vererbte man traditionell die Bücher, und um die 200 Millionen Bände wurden bis heute mindestens veröffentlicht. Wer muss da neue Bücher kaufen, die außerdem inzwischen über hundert Jahre alte sind?
Das Problem hat sein persönlicher Verlag erkannt, der die May-Werke in neuen Jugend- und Kinderfassungen präsentiert, außerdem neue Erzählungen mit den berühmten Figuren. An den Erfolg vergangener Zeiten kann man damit nicht anknüpfen.
Moderne Mythen
Bekannt ist Karl May, berühmt sind seine Figuren ohne Zweifel. Die Medien zitieren regelmäßig Titel seiner Werke in leicht veränderter Form. Da heißt es dann "Durchs wilde Absurdistan", "Durch die Würste" oder "In den Schluchten des Südostbahnhofs". Man kann dabei mit Sicherheit auf Wiedererkennungseffekte setzen, denn die May-Figuren und -Werke sind eben längst zu modernen Mythen geworden.
Einen großen Anteil haben daran die Verfilmungen "nach Motiven von Karl May", die in den 1960-er Jahren entstanden und die immer noch erstaunlich häufig gesendet und angesehen werden, gerade auch im Internet.
Auf deren Beliebtheit und Bekanntheit wiederum baute 2001 Michael Herbigs Film "Der Schuh des Manitu", der in Österreich und Deutschland fast vierzehn Millionen Zuschauer in die Kinos lockte. Karl May tritt darin sogar kurz als Figur auf, doch mit ihm und seinen Büchern hat das liebevoll gemachte Spektakel kaum mehr etwas zu tun.
Von einer May-Renaissance konnte vor elf Jahren also so wenig wie heute die Rede sein, wohl aber von einer stabilen Rezeption allgemeinerer Art. Dafür sprechen auch die jährlich vielleicht eine Million Besucher von Bad Segeberg, Elspe und dem anderen Dutzend Festspielorten in Deutschland, Österreich und Tschechien, wo man Indianer-Cowboy-Beduinen-Stücke spielt, die Karl May in unterschiedlichen, oft sehr geringen Gewichtsanteilen enthalten. Der Name bleibt so im Gespräch und damit gibt es eine gute Chance, dass seine Werke weiterhin gelesen werden. Immerhin finden sich darin Weisheiten wie diese: "Deine Klugheit ist so kurz wie eine Blutwurst".
Rolf-Bernhard Essig und Gudrun Schury arbeiten als Autoren für deutschsprachige Verlage, Zeitungen und Rundfunksender. Sie haben sich in zahlreichen Publikationen mit Karl May beschäftigt. Die Summe zieht ihr Werk "Alles über Karl May. Ein Sammelsurium von A-Z", Aufbau-Verlag, Berlin.
Schriftsteller Peter Henisch im Interview über Karl May