Im Handel verschwinden jedes Jahr Waren im Wert einer halben Milliarde.
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Wien. Die Rasierklinge für den Herrn, das Parfüm für die Dame, und natürlich: Kondome. Das sind die Klassiker in der ewigen Hitliste des Schwunds. Es sind vor allem kleine, hochwertige Produkte, die eine für Handelsbetriebe unangenehme Eigenschaft besitzen; Sie verschwinden auf klandestine Weise. Ohne Transaktion.
Schwund muss nicht immer Diebstahl sein, auch das Glas mit der Sugo, das kurz vor der Kassa aus den Händen gleitet und auf den Supermarktfliesen detoniert, fällt in der Buchhaltung in diese Kategorie. Doch den Hauptanteil am Schwund im Handel tragen Ladendiebe, sie sind - je nach Schätzung - für 50 bis 60 Prozent des Schwunds verantwortlich.
Eine weltweite Studie aus dem Jahr 2011, durchgeführt vom britischen Centre for Retail Research, weist Österreich als das aus, wofür es schon Papst Paul VI. gehalten hat: als Insel der Seligen. Nur in Hongkong und Taiwan verschwindet weniger als hierzulande. Dennoch entsteht auch in Österreich jedes Jahr ein Schaden in der Größenordnung einer halben Milliarde Euro, was in etwa einem Prozent des Umsatzes der gesamten Branche entspricht. Klingt zunächst einmal verkraftbar, ist aber tatsächlich ein gravierendes Problem.
Weniger Shops, mehr Fläche
"Der Gewinn im Handel beträgt ja auch nur zwischen ein bis drei Prozent des Umsatzes", sagt Roman Seeliger, er ist stellvertretender Geschäftsführer der Handelssparte in der Wirtschaftskammer. "Wenn, wie für viele Betriebe, der Schwund in der Größe des Gewinnes liegt, ist das schon gigantisch." Europaweit wird der Verlust durch Schwund auf bis zu 40 Milliarden Euro taxiert.
Die sehr gering gewordenen Umsatzrenditen im Handel bedingen geradezu die zunehmende Filialisierung, die sich seit Jahren in Österreich vollzieht. Laut einer Studie der KMU-Forschung hat sich der Grad der Filialisierung in den vergangenen zehn Jahren von 31 auf 38 Prozent erhöht. Die Anzahl der Geschäfte ist in diesem Zeitraum um neun Prozent zurückgegangen, während die Verkaufsfläche insgesamt um sieben Prozent gewachsen ist. Der Trend zu mehr Filialen und größerer Fläche scheint ungebrochen.
Genau diese Entwicklung stellt die Handelsbetriebe allerdings vor große Herausforderungen, was den Schwund anbelangt. "Je anonymer die Beziehung in einem Geschäft ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas verschwindet", sagt Peter Schnedlitz, Handelsforscher und Institutsvorstand an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Einerseits sind Filialen und große Handelsflächen gefragt, um trotz geringer Umsatzrenditen stabil wirtschaften zu können, doch mehr Größe birgt die Gefahr der Anonymität, die wiederum den Schwund begünstigt und also die Umsatzrenditen weiter verringert. Es sind die unendlichen Weiten von Bau-, Elektronik- und Supermärkten, von Drogerie- und Modeketten, die das natürliche Habitat der Ladendiebe darstellen. Im Schatten der Regalwelten fühlen sie sich unbeobachtet, auch wenn an der Decke Kameras montiert sind. Doch diese werden in der Regel auch nicht permanent überwacht, und gerade in großen Filialgeschäften wimmelt es nicht gerade von Verkäufern.
Problematische Anonymität
"Die Hälfte der Diebstähle lassen sich durch ein geschicktes Verhalten der Mitarbeiter verhindern", sagt Seeliger. "Allein wenn man Kunden grüßt, können sie nicht so leicht in die Anonymität verschwinden." Und auch Robert Hartlauer, Eigentümer der gleichnamigen Foto-, Optik- und Elektronikkette, sagt: "Bei uns ist der Ladendiebstahl geringer, weil wir personalintensiv aufgestellt sind."
Doch was, wenn die eigenen Mitarbeiter Waren verschwinden lassen? Erst vor wenigen Wochen hat es in Krems große Aufregung gegeben, als Beschäftigte der Media-Markt-Filiale von einem privaten Sicherheitsdienst perlustriert wurden. Das Unternehmen distanzierte sich zwar von diesen Leibesvisitationen, allerdings meldeten sich in den Tagen danach zahlreiche Mitarbeiter aus ganz Österreich bei der Gewerkschaft, die Ähnliches berichteten.
Dass auch Beschäftigte zu Ladendieben werden oder durch andere Tricks den Schwund mitunter in schwindelerregende Höhen schrauben, ist in der Branche wohlbekannt. Für, schwach geschätzt, ein Fünftel des Schwunds sind Mitarbeiter verantwortlich. Kalkuliert man den Warenwert, lässt sich sogar in einigen Sparten mit einem Drittel rechnen. "Mitarbeiter stehlen viel weniger, aber wenn, dann Waren mit höherem Wert", sagt Roman Seeliger.
Die kleine Greißlerei mit nur ein, zwei Beschäftigten wird dieses Problem kaum haben - wenn es sie überhaupt noch gibt. In der Lebensmittelbranche sind neun von zehn Geschäften in Österreich Filialisten. Und bei ihnen ist das generelle Problem des Schwunds groß genug, dass neben Überwachungskameras auch Detektive sowie elektronische Sicherungssysteme zum Einsatz kommen. Das mag zwar kostenintensiv sein, zahlt sich aber offenbar dennoch aus.
Dass Überwachungssysteme mitunter auch gegen die eigenen Mitarbeiter gerichtet sind, ist durch diverse Skandale in Deutschland gut dokumentiert, etwa bei Lidl oder Penny. Es sind, wie zuletzt bei Media-Markt in Krems, Einzelfälle. Heißt es zumindest von den Unternehmen.
Heikles Thema Überwachung
Die Modekette Hollister hat in Deutschland einen kreativen Weg eingeschlagen, sie lässt Angestellte würfeln. Bei einer bestimmten Zahl muss sich ein Beschäftigter einer Taschenkontrolle unterziehen. "So will man den Druck herausnehmen", sagt Schnedlitz. Er empfiehlt, bei einem Verdacht das persönliche Gespräch zu suchen, den Mitarbeitern erklären, warum ein Unternehmen Taschen durchsuchen muss. "Man sollte aber nicht alle überwachen. Ein sich beobachtet fühlender Verkäufer ist ein schlechter Verkäufer", sagt der Forscher. "Der Handel ist eine Branche, in der Vertrauen notwendig ist, mit Stechuhr und Kameras kann man ein Geschäft nicht zum Erfolg führen."
Fragt man Robert Hartlauer nach Gegenstrategien, antwortet er blitzartig: "Man muss eine Identifikation zum Unternehmen herstellen. Es ist der wichtigste Aspekt, dass ein Mitarbeiter beim Eigentum nicht mehr unterscheidet, das ist deins, das ist meins." Nicht nur, dass Beschäftigte dann viel seltener stehlen, wenn sie sich mit dem Geschäft und den dort verkauften Waren identifizieren, sie kontrollieren die Kunden auch besser, sie kümmern sich und gehen auch achtsamer mit den Waren um. Genau dies, sagt Seeliger, sei die Stärke des mittelständischen Handels.
Mangelnde Identifikation
Für die Megastores der großen Konzerne mag zwar die Zielsetzung auf der Hand liegen, die Umsetzung ist aber schwierig. Es scheitert am Grundsätzlichen. Laut Arbeitsmarktservice liegt die Fluktuation in der Handelsbranche bei rund 40 Prozent, in urbanen Gebieten sogar darüber. Verkäufer sein heißt heute bisweilen auch: Regale einschlichten, arbeiten bis spät, geringe Verdienstmöglichkeiten, einer von vielen sein, hohe Kundenfrequenz, hoher Stresslevel. Es gibt durchaus beliebtere Jobs. Wenn dann auch die Möglichkeit von Taschenkontrollen in den Dienstverträgen geschrieben steht? Eine verständliche Klausel, um den Schwund zu reduzieren, doch fördert sie kaum die Vertrauensbildung und Identifikation der Mitarbeiter.
Die relativ gesehen hohe Fluktuation hat für die Konzerne durchaus signifikante Folgekosten. "Wenn die Unternehmen jammern, sag’ ich immer: zahlt mehr!", sagt Schnedlitz. Und zumindest teilweise passiert das auch. Einerseits durch eine Erhöhung des Mindestgehalts auf 1500 Euro (ab 2015), andererseits durch Freiwilligkeit einzelner Betriebe, beispielsweise Lidl.
Wettbewerb um Mitarbeiter
Roman Seelinger von der Wirtschaftskammer ortet seit einigen Jahren auch eine "Gegenbewegung", wie er sagt: "Die Expansion nur in Fläche geht nicht mehr." Er erzählt vom intensiven Wettbewerb, den sich die Handelsketten heute um Lehrlinge und qualifizierte Mitarbeiter liefern, um sogenannte CSR-Programme, also Corporate Social Responsibility, um Mitarbeiter an das Unternehmen zu binden und die Zufriedenheit am Arbeitsplatz zu erhöhen. Robert Hartlauer berichtet von diversen Seminaren, Coaches und klaren Aufstiegsmöglichkeiten für Mitarbeiter.
Seeliger ist überzeugt davon, dass sich langfristig nur jene Handelsunternehmen behaupten werden, die auf dieser Schiene unterwegs sind, die ihren Beschäftigten etwas bieten, um sie damit enger und länger an das Unternehmen zu binden. "Dass sich die Ethik am Arbeitsmarkt durchsetzt, ist die Antwort der sozialen Marktwirtschaft auf den Turbokapitalismus", sagt Seeliger. Er sagt aber auch: "Wir stecken da noch in den Kinderschuhen."
Da nicht damit zu rechnen ist, dass sich die Umsatzrenditen im Handel in den kommenden Jahren erhöhen werden (Stichwort: Onlinehandel), wird Mitarbeiterbindung wohl ein ganz wesentlicher Ansatz für die Betriebe werden, um zu verhindern, dass der Schwund den Gewinn auffrisst. Derzeit knabbert er gewaltig.