In Bielsko-Biała, dem einstigen Bielitz, besinnt man sich wieder der altösterreichischen Vergangenheit.
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Als jungen Menschen interessierte mich die Vergangenheit des alten Österreich nicht, so viel war ja in der Zukunft möglich, warum sich also für Verlorenes interessieren - was vergangen ist, kehrt nicht wieder. Und damit war ich nicht allein: Auch wenn die Vorfahren eines nicht geringen Anteils der heutigen Österreicher aus "Kronländern" stammten, die heute nicht mehr zu Österreich gehören, vergaß, verdrängte, verräumte man die Geschichte, wollte sie vergessen.
Es war Mitte der Sechzigerjahre des vergangenen, des 20. Jahrhunderts. In unserer Familie gab es das erste Auto, und meine Mutter beschloss, mit mir und meiner etwas jüngeren Schwester in ihre Geburtsstadt Bielitz, heute Bielsko-Biała, im ehemaligen Österreichisch Schlesien zu fahren und ihren Kindern die Stätten ihrer Jugend zu zeigen: das Pfarrhaus, in dem sie als Tochter des evangelischen Pfarrers aufgewachsen war, die große evangelische Kirche, den Alten Evangelischen Friedhof. Zur Zeit ihrer Jugend wurde Bielitz wegen der prächtigen Stadtlandschaft mit den eindrucksvollen Gründerzeit- und Jugendstil-Häusern gern Klein-Wien genannt.
Verdächtige Karte
Ohne besondere Schwierigkeit kamen wir von Bratislava bis zur polnischen Grenze in Teschen/Český Těšín/Cieszyn, doch an dieser sogenannten "Friedensgrenze" zwischen zwei kommunistischen Satellitenstaaten - in Wirklichkeit einem "Innenvorhang" des Sowjetimperiums - stauten sich die Autos stundenlang. Endlich waren wir bis zum polnischen Grenzwächter avanciert, aber jetzt begannen die Schikanen.
Eine aktuelle Straßenkarte der Schweizer Firma Kümmerle und Frey war im offenen Handschuhfach unseres Käfers sichtbar, und der Grenzer begehrte sie zu sehen. Die Karte zeigte - wie das Schweizer Karten in dieser Zeit noch taten - die Grenzen Deutschlands in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg: Deutschland reichte mit Schlesien nach Südosten bis knapp vor Kattowitz, was dem Mann nicht gefallen durfte.
"Die Karte muss ich vernichten", sagte er in einer Mischung aus Polnisch und Deutsch. "Wir brauchen die Karte, um uns nicht zu verirren", wandte ich ein. Ein langer Wortwechsel entspann sich, ich bemühte mich, höflich und doch penetrant zu bleiben. "Die historischen polnischen Grenzen sind an Oder und Neiße, und dort sind sie auch heute", beharrte der Grenzer, historisch nicht ganz sattelfest.
Schließlich schlug ich vor, die wertvolle Karte zu teilen, eine sozusagen salomonische Lösung: Die ehemals deutschen und heute polnischen Gebiete würden wir mit einer Schere ausschneiden und dem Grenzer übergeben. Den Rest der Karte würden wir behalten. Ein Vorgesetzter wurde geholt, und tatsächlich einigten wir uns entlang dieser Scherenschnitt-Grenze. Die beschnittene Karte existiert auch heute noch als Kuriosum in meiner Kartensammlung "Mittel-Ost-Europa".
In Bielitz, heute Bielsko-Biała, waren die Begegnungen mit Mitgliedern der örtlichen Kirche freundschaftlich, doch spürte man die Zurückhaltung, die das kommunistische Regime den Bürgern im Umgang mit Ausländern auferlegt hatte. "Nein, von Ihrem Großvater Pfarrer Dr. Wagner sind mir keine Aufzeichnungen bekannt", antwortete der evangelische Pfarrer, meiner diesbezüglichen Frage ausweichend.
Die Gebäude am "Bielitzer Zion" waren mit ausländischer evangelischer Hilfe renoviert, ja sogar an die Stelle einer der wenigen Kriegsruinen war ein modernes Pfarrheim gebaut worden. Doch insgesamt wirkten Häuser und Straßen von Bielitz heruntergekommen, das Tor zum Alten Evangelischen Friedhof war versperrt; uns wurde gesagt, man hätte deutsche Inschriften ausgemeißelt und die Gräber wären verwahrlost. Ich konnte die ehemaligen Bielitzer verstehen, die Reisen in ihre alte Heimat vermieden. Wir hatten den Eindruck einer allgemeinen Resignation.
Etwa zehn Jahre später war ich auf einer Tagung in Ustron, die junge polnische Kollegen organisiert hatten, im obersten Weichsel-Tal, etwa zwanzig Kilometer südwestlich von Bielsko-Biała. Ich sprach über ein physikalisches Fachthema, doch leitete ich den Vortrag mit einer spontan selbst gezeichneten Karte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ein, auf der ich zeigte, wie verknüpft das östliche Mitteleuropa vor sechzig Jahren gewesen war.
Ich hatte etwas Bauchweh gehabt, doch die Resonanz war überraschend und überschwänglich. Die deprimierte Stimmung war bei den jungen Polen, Ungarn und Tschechen einer "mitteleuropäischen" Zukunftshoffnung gewichen. Noch heute spricht mich mancher mittlerweile alte Kollege auf diese (historische, vielleicht auch prognostische) Karte an.
Dann kam die Wende, und der anscheinend monolithische Sowjetblock löste sich auf. Bielsko-Biała ist heute von Wien mit dem Auto in wenig mehr als vier Stunden erreichbar. Ich arbeitete 1989 nicht in Berlin, habe den Fall der Mauer also nicht "vor Ort" erlebt, und war 1989 auch nicht in Bielsko-Biała, doch spiegelt folgende Begebenheit am aufgelösten "Eisernen Vorhang" die Stimmung dieser Aufbruchszeit wieder.
Über die Grenze
In den frühen Neunzigerjahren waren Österreich und Tschechien dabei, ihre gemeinsame Grenze zu öffnen und bis dato gesperrte Grenzübergänge mit recht verkommenen Vorkriegsstraßen freizugeben. Eines dieser Sträßchen überquert die Grenze vom österreichischen Dorf Schrattenberg im nördlichen Weinviertel in Richtung des tschechischen Valtice/Feldberg. Auf österreichischer Seite wurde die Öffnung schon monatelang angekündigt, und so beschlossen meine Frau und ich, ein schönes Frühlingswochenende im Jahr 1993 zu nutzen und diesen Übergang mit dem Rad schon zwei Wochen vor der feierlichen Eröffnung auszuprobieren, um anschließend die südmährischen Schösser zu besuchen.
Auf österreichischer Seite gibt es einen kraftzehrenden Anstieg, und ich erreichte früher als meine Frau den bereits offenen Grenzübergang mit einem anscheinend funktionslosen Häuschen. Als ich schon hundert Meter nach Tschechien hineingeradelt war, hörte ich hinter mir Geschrei: Aus dem offenbar doch bemannten Häuschen waren zwei Männer gestürzt, die meine Frau aufhielten. Auf Deutsch redete einer heftig aufsie ein und hinderte sie am Weiterfahren. Ich kehrte um.
"Was glauben Sie denn, das ist eine geschlossene Grenze!" - "Aber sie ist doch offen, ich bin gerade drübergefahren", erwiderte ich. "Nein, das war verboten. Vor kurzem wären sie da erschossen worden", beharrte der Grenzer. "Aber Sie haben mich doch nicht erschossen, diese Veränderung ist doch sehr erfreulich", wandte ich ein. Der Grenzer zögerte, dachte offenbar nach, wie er mit dieser Situation zurechtkommen könnte.
"Pass her!", schnauzte er mich schließlich rüde an und blätterte dann in meinem Pass. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht: "Aus Wien!!!" Und dann: "Herr Doktor aus Wien! Willkommen in der Tschechoslowakischen Republik!" Wie gut es doch manchmal sein kann, dass die titelversessene österreichische Bürokratie auf akademische Titel im Pass besteht.
"In der tschechischen", korrigierte ich unhöflich, denn die beiden Bruderländer hatten sich eben getrennt. "Willkommen in der Tschechischen Republik", verbesserte er sich; da mussten wir alle lachen, und der Grenzübertritt konnte erfolgen. Gerade, dass uns die Herren nicht auf einen Sliwowitz eingeladen haben. So hatten sich Mitteleuropa und die Haltung seiner Menschen mit dem Fall des Eisernen Vorhangs verändert!
Doch zurück zu Bielitz. Bei späteren Besuchen konnten wir die zunehmende Sanierung der Stadt verfolgen, mit den renovierten Gründerzeit- und Jugendstil-Häusern mauserte sie sich allmählich wieder zu "Klein-Wien". Im heutigen Bielsko-Biała sind zahlreiche Bauten aus der österreichischen Zeit fast unverändert erhalten: großzügige Gründerzeithäuser der reichen deutschen und jüdischen Fabrikanten oder das ehemals Deutsche Theater von 1890 (jetzt "Teatr Polski") - ein Bau des Wiener Architekten Emil von Förster, 1905 erweitert von Helmer und Fellner, den überall in der Monarchie tätigen Theaterbaumeistern.
Und nicht zuletzt der "Bielitzer Zion", ein Viertel geprägt von der evangelischen Kirche und deren Sozialbauten wie Schwesternhaus und Waisenhaus und den Gebäuden der ehemals evangelischen deutschen Schulen, deren Schüler sich aus der deutschen und deutschsprachigen jüdischen Stadtbevölkerung rekrutierten.
Teilweise dienen diese Häuser heute anderen Zwecken, denn die Deutschen und Juden gibt es nicht mehr, und die evangelische Gemeinde, früher die größte in Österreich - um 1800 war die Hälfte der Bielitzer evangelisch -, ist geschrumpft. Doch die Bauten sehen aus wie auf den Fotos aus dem frühen 20. Jahrhundert und sind vorbildlich restauriert. Die evangelische Gemeinde, jetzt polnischer Sprache, floriert, wie man aus dem regen Kirchenbesuch sehen kann.
Belebte Erinnerung
Der ehemalige evangelische Bischof von Polen, Ian Szarek, ein geborener Bielitzer, hat sich dafür eingesetzt, dass die Werke des letzten deutschen Pfarrers R.E. Wagner wieder zu Ehren kommen. Besonders der "Fons pastoralis", ein Brunnen, den Wagner auf dem Platz vor der Kirche aufstellen ließ und auf dem die Namen von fünf verdienstvollen Pastoren der Gemeinde seit der Reformationszeit eingraviert sind.
Bischof Szarek hat diese Namen, die in kommunistischer Zeit ausgemeißelt worden waren, aus Wagners "Bielitz-Bialaer Chronika", einer von Wagner reichlich kommentierten Sammlung alter Stadtchroniken, ermittelt. Das nur noch in wenigen Exemplaren vorhandene Buch wurde eben auf einer Auktion in Krakau um mehr als 1.000 Euro versteigert - die Geschichte steigt offenbar aus der Versenkung, in die sie die kommunistische Zeit verbannt hat.
Pfarrer Wagner hat in der Zwischenkriegszeit von einem multikulturellen Bielitz-Biała geträumt, doch 1939 wurde das ehemalige Österreichisch Schlesien in das deutsche Oberschlesien integriert, gleichberechtigte polnisch-deutsche Zusammenarbeit war nicht mehr gefragt. Und 1945 wurde umgekehrt die deutsch-österreichische Geschichte der Doppelstadt per Dekret gelöscht. Wagner kehrte nach Bielitz zurück, um seine schrumpfende und bedrängte Gemeinde in der Not zu betreuen. Das sollte ihn das Leben in einem polnischen Lager kosten.
Heute sucht Bielsko-Biała nach seinen Wurzeln. Der rührige Historiker Piotr Kenig hat neun Stadtrundgänge durch Bielsko-Biała eingerichtet, auf denen man die Stadtgeschichte, auch die deutsch-österreichische, verfolgen kann. Und die emeritierte Kunstgeschichte-Professorin Ewa Chojecka hat einen wunderschönen Bildband "Architektura i urbanistyka Bielska-Białej do 1939 roku" ("Architektur und Stadtplanung von Bielitz-Biala von den Anfängen bis zum Jahre 1939") herausgegeben und kommentiert.
Gero Vogl, geboren 1941 in Bielitz, hat an der Universität Wien Physik studiert, sich an der Technischen Universität München habilitiert, war ab 1977 Professor an der Freien Universität Berlin und ab 1985 bis zu seiner Emeritierung auch Ordinarius für Physik an der Universität Wien.