Was die Wähler am 15. Oktober der Politik eigentlich sagen wollten und die Folgen eines Missverständnisses. Ein Rat an Türkis-Blau.
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Es ist nicht so, als ob die Welt gerade besonders langweilig wäre. Eher im Gegenteil. Neues, Ungewissheit, Unsicherheit bestimmen rund um den Globus die Entwicklungen, da wäre es nur zu verständlich, wenn die Menschen auf Bewährtes setzen. Jeder von uns kann schließlich nur ein gewisses Maß an Unruhe verarbeiten.
Doch die Menschen vertrauen überraschend häufig nicht auf die altgewohnten Kräfte, nicht einmal dort, wo sie es selbst in der Hand haben. Obwohl doch unzählige Studien, die mit dem Gewährstempel der empirischen Wissenschaft versehen sind, behaupten, dass sich eine Mehrheit der Bürger nichts sehnlicher wünscht, als ein bisschen Sicherheit, Ruhe und Stabilität in diesem Meer der gefühlten Ungewissheit. Und trotzdem entscheiden sie sich an den Urnen für etwas Neues, ja manchmal sogar für eine kleine Revolution, den angekündigten Bruch mit dem Immer-weiter-So.
Man konnte das in der jüngeren Vergangenheit in etlichen Ländern des Westens beobachten. Emmanuel Macron und Donald Trump segelten beide mit diesem Wind, wenngleich in unterschiedliche Richtungen. Das "Brexit"-Votum und die Hinwendung der osteuropäischen Staaten zu national-patriotischen Parteien passen ebenfalls in diese Schublade. Und sogar der vor den deutschen Bundestagswahlen als unantastbar vermuteten Angela Merkel signalisierten die Bürger recht unverblümt den Wunsch nach einer Kursänderung in wesentlichen Fragen.
Die Verwalterverwalteten zu radikal
Die Österreicher haben es bei der Nationalratswahl am 15. Oktober ganz ähnlich gehalten: Damit möglichst vieles so bleibt, wie es ist, beziehungsweise wieder so wird, wie es früher einmal war, wurden ausgerechnet jene Parteien abgewählt, die sich bisher immer den Vorwurf gefallen lassen mussten, bloße Verwalter des Status quo zu sein.
Das scheint auf den ersten Blick paradox. Der zentrale Vorwurf dieser Unzufriedenen gegenüber SPÖ und CDU, gegen François Hollande und Barack Obama lautet jedoch, dass sie nicht genug getan haben, um die als Bedrohung empfundenen rasanten Veränderungen aufzuhalten. Oder anders formuliert: Die Verwalter verwalteten zu pflichtgetreu. Statt sich als Bollwerk gegen die globalen Kräfte der Neuerungen zu verstehen, agierten diese Parteien als deren Gehilfen. So, oder so ähnlich, sehen das all jene, die sich jetzt zu Anklägern aufschwingen.
Auf diese Weise lässt sich der Wahlsieg der FPÖ ganz wunderbar erklären, doch wie passt die Analyse zum Erfolg von Sebastian Kurz und seiner ÖVP?
Kurz ist das bemerkenswerte Kunststück gelungen, sich selbst und seine von schwarz auf türkis umgemodelte Partei zum Träger jenes Erneuerungswunsches zu machen, der von einer Mehrheit der Wähler herbeigesehnt wurde. Das ist keine kleine Leistung, wenn man bedenkt, dass Kurz selbst zum Zeitpunkt der Wahl das zweitlängst dienende Mitglied der Regierung war und die ÖVP seit 1986 ohne Unterbrechung mitregiert.
Die Gegner verzweifelten an dieser aus ihrer Sicht Chuzpe des ÖVP-Obmanns und wollten nicht glauben, dass dies bei den Wählern verfangen könnte. Tat es aber. Und während SPÖ, Grüne, Neos und auch die FPÖ versuchten, Kurz der Bürgertäuschung zu überführen, baute dieser eine ganz eigene Beziehung zu den Wählern auf, die sich nicht lange mit der Vergangenheit aufhielt, sondern sich auf die Erwartungen für die Zukunft konzentrierte. Anders als SPÖ-Chef Christian Kern, den Kurz zum kürzesten Kanzler degradierte, akzeptierte FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache einfach, dass der 31-Jährige im Wahlkampf eine besondere Wirkung ausstrahlte.
Die Koalition verfügt über ein belastbares demokratisches Mandat. ÖVP wie FPÖ haben einen deutlichen Stimmenzuwachs erzielt, während die SPÖ als dritte Mittelpartei auf niedrigem Niveau stagnierte. Gemeinsam verfügen die Koalitionspartner über 113 von 183 Mandaten, das ist deutlich mehr als die Regierungen Schüssel I (104), Schüssel II (97), Faymann I (108) und Faymann II (99) auf sich vereinigten. Um künftig eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit zu erreichen, genügen also bereits die zehn Stimmen der Neos; auf die SPÖ müsste Türkis-Blau also keine gesteigerte parlamentarische Rücksicht nehmen.
Was hinter der Mehrheitfür Türkis-Blau steht
Die türkis-blaue Mehrheit fußt auf zwei Botschaften: Die eine, das Versprechen "neu regieren", ist zuvorderst eine Stilfrage, keine inhaltliche. Die zweite besteht aus der Ankündigung, die Zahl der Flüchtlinge und auch sonstige Zuwanderung so weit wie möglich zu begrenzen und den Kurs bei Integration zu verschärfen.
Darüber hinaus hat diese Koalition eigentlich keinen Auftrag von den Wählern, die Republik von Grund auf umzubauen. Sie kann es natürlich trotzdem tun. Regierungen tun so etwas von Zeit zu Zeit, immerhin gilt: Mehrheit ist Mehrheit. Aber ÖVP und FPÖ sollten sich klar sein, dass hinter dem Wunsch der Bevölkerung nach Veränderung, der im Ergebnis vom 15. Oktober zum Ausdruck kommt, die Sehnsucht nach Geborgenheit und Stabilität steht.
Es wird spannend sein zu beobachten, ob das Kurz und Strache auch so sehen, oder ob sie ihre gemeinsame Mehrheit im Nationalrat als Auftrag verstehen, die Republik nach ihrer eigenen Fasson zu verändern, wie es Wolfgang Schüssel und Jörg Haider in den Jahren 2000 ff. glaubten. Im Laufe der Zeit stellte sich dann jedoch heraus, dass es neben einer Mehrheit für die Koalition im Parlament auch erhebliche Widerstände gegen zentrale Vorhaben von Schwarz-Blau I gab. Bei Pensionen, Sozialpartnerschaft, Gesundheit, Universitäten und einigen anderen mehr.
Natürlich gilt, dass jede Regierung in der politischen Verantwortung steht, aus ihrer Sicht notwendige Veränderungen im Sinne des Gemeinwohls zu unternehmen. Doch diese Forderung ist weitgehend abstrakt, und wird sie konkret, beginnt der politische Streit. Hinzu kommt, dass die Menschen in Österreich in einer Weise strukturkonservativ denken, fühlen und handeln, die weit über die herkömmliche parteipolitische Zuordnung hinausweist. Deshalb ändert sich an dieser Grundhaltung auch relativ wenig, egal, welche Parteien gerade regieren.
Hier findet sich auch die mentale Schnittmenge, die so unterschiedliche Koalitionen wie Rot-Schwarz, Schwarz-Blau, Rot-Grün, Rot-Blau, Schwarz-Grün und sogar Rot-Schwarz-Grün gleichzeitig innerhalb der Grenzen der Republik politisch möglich machen. Alle diese Kombinationen verbindet ein im Kern beharrendes Element, bei dem sich zumindest eine Partei, in der Regel die stärkste, mit den Strukturen des Status quo identifiziert.
Wahrscheinlich lässt unsere Form demokratischer Politik etwas anderes als Trippelschritte in Sachen Veränderungen gar nicht zu. Einzige Ausnahme: Tatsächliche Krisen, die die Politik nicht nur zum Bruch zwingen, sondern der Bevölkerung auch die Notwendigkeit dafür vermitteln. Ansonsten werden in der Regel verlässlich die Beharrungskräfte in einer politischen Konfrontation den Sieg davon tragen.
Die wahre Botschaft eines Wahlsieges
Für ehrgeizige Politiker gibt es wenige härtere Prüfungen, als über die wahre Botschaft - wenn es so etwas wie Wahrheit in dieser Branche denn überhaupt geben sollte - eines Wahlsiegs ungeschminkt Rechenschaft abzulegen: Warum haben die Bürger Kurz und Strache und nicht Kern gewählt, der doch 2016 angetreten war, die SPÖ zu neuen Ufern zu führen und die Ära ihrer Kanzlerschaft um ein Jahrzehnt zu verlängern? Was bedeuteten Versprechen wie "Zeit für Neues" und "Echte Veränderung", mit denen Kurz die Volkspartei zur stärksten Kraft katapultierte? Und was genau ist eigentlich unter dem Motto "Neu Regieren" zu verstehen, das die neue Koalition ihrer auf fünf Jahre angelegen Zusammenarbeit voranstellen?
Sebastian Kurz hat als Bundeskanzler eine realistische Chance, eine neue Ära in der Innenpolitik zu begründen, und zwar seine ganz persönliche Ära. Die Bedingung dafür ist, dass er seinen Wahlsieg nicht über- oder fehlinterpretiert. Richtig ist, dass eine Mehrheit der Wähler eine Fortsetzung der rot-schwarzen Koalition eine Absage erteilte. Diese Mehrheit will tatsächlich "Veränderung", allerdings nur deshalb, weil sie dieser Form von Rot-Schwarz nicht mehr zutraut, all das, was sie bewahrt wissen will, auch tatsächlich zu bewahren. SPÖ und ÖVP waren in der alten Regierungskonstellation nicht Bollwerke gegen unliebsame Veränderungen, sondern deren Ermöglicher.
Kein Auftragzur Revolution
Das klingt, auf den ersten Blick jedenfalls, wie eine abstruse Theorie. Wer SPÖ und ÖVP als Agenten rasender Veränderung beschreibt, so werden sich jetzt viele Kenner der österreichischen Wirklichkeit denken, kann unmöglich von den gleichen Parteien, die bisher dieses Land regierten. Und tatsächlich stimmt, dass die bisherige Regierung alles überall dort beim Alten beließ, wo sie sich selbst zu Veränderungen bequemen hätte müssen. Dass SPÖ und ÖVP außerdem verlässlich gegeneinander statt miteinander regierten, verstärkte das Schicksal einer selbst gewählten Erstarrung noch weiter.
In anderen Bereichen, insbesondere in all jenen, in den Österreich, im Strom der globalen Entwicklung mitschwimmt und mitunter auch mitgerissen wird, hat die Regierung (wie fast alle anderen Regierungen auch) in den Augen einer zukunftsskeptischen Mehrheit vom 15. Oktober zu viel Veränderungen ermöglicht. In einzelnen, hochemotionalen Fragen sogar viel zu viel. Die Migrations- und Integrationsfrage ragt dabei wie ein Achttausender aus dem Wiener Becken heraus. Der Eindruck gilt aber auch für etliche weiteren Themen, die nicht selten dem Metathema Islam und Zuwanderung auf die eine oder andere Weise verknüpft sind. Hier hätten sich die Wähler von ÖVP und FPÖ eine Regierung gewünscht, die sich als Bollwerk gegen diese Entwicklungen stellt.
Wie legt also Schwarz-Blau II, das als Türkis-Blau I in die Geschichte eingehen will, seine Regierungspolitik für die kommenden fünf Jahre an? Der allererste Eindruck lautet: gemächlich. Dass kann natürlich ein vorschnelles Urteil sein, das im Lauf des Jahres 2018 noch zurechtgerückt werden wird. Aber wenn man bedenkt, mit welcher Dynamik sich Schwarz-Blau I vor bald zwanzig Jahren an den Umbau der rot-schwarzen Republik machte, wenn man sich an das geflügelte Wort von "Speed kills" erinnert, mit dem die damaligen Spitzen von ÖVP und FPÖ die Opposition (und nicht selten auch ihre eigenen Parteien) überrollten, dann sticht nun doch vor allem die Betulichkeit ins Auge, mit der sich Kurz und Strache daran machen, möglichst nichts Falsches und dabei auch noch Einiges richtig zu machen.
Das kann natürlich Taktik sein. Immerhin stehen Österreich in den ersten vier Monaten 2018 vier Landtagswahlen ins Haus. Den Auftakt macht mit Niederösterreich Ende Jänner der bundespolitisch wichtigste Urnengang, dann folgen Tirol, Kärnten und schließlich Salzburg. Sind diese geschlagen, hätte die Regierung Luft für die eine oder andere hitzige Debatte. Allerdings nur innenpolitisch. Denn mit dem 1. Juli beginnt das Halbjahr der EU-Präsidentschaft Österreichs. In dieser Zeit ist vor allem Kurz als Kanzler und seine rechte Hand, Kanzleramtsminister Gernot Blümel europapolitisch voll in Beschlag; das bindet die kostbaren, weil äußerst knapp bemessenen Aufmerksamkeitsressourcen der Politik.
Das Thema Wohnenhat Sprengkraft
Mit Zäsuren im Pensionen-, Sozial-, Gesundheits- und Universitätsbereich hat Schwarz-Blau einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, eine am Boden liegende SPÖ zurück auf die Beine zu bringen. Indem in die Interessensphären von Arbeiterkammern und ÖGB eingedrungen wurde, stärkten ÖVP und FPÖ den Widerstand gegen sich selbst.
Zumindest mit den Sozialpartnern geht Türkis-Blau behutsamer um, als es der Wahlkampf der FPÖ vermuten ließ. Ein paar Änderungen soll es geben, am besten ein bisschen weniger Geld für die Kammern. Bis Jahresmitte sollen diese nun Vorschläge zur Selbstbeschneidung vorlegen. Das ist entweder genial gemein, weil eben dann die Regierung ihren Willen durchsetzen will, oder tatsächlich konsensorientiert. Im zweiten Halbjahr werden wir es wissen.
Einschlägige Demonstrationsgefahr droht ÖVP und FPÖ allerdings noch beim Thema Sozialen und Wohnen. Da ist zum einen die Befürchtung, nun könnte eine Variante des deutschen Hartz IV kommen, jener einschneidenden Sozialreformen in Deutschland, die zwar den Jobmarkt belebten, aber auch tief in den Sozialstaat einschnitten. Fügt man noch das Thema Wohnen hinzu, liegt politischer Sprengstoff erster Güte begraben. In allererste Linie für die FPÖ, die 2020 die große Schlacht gegen das rot-grüne Wien ausrufen will. Es sind nämlich die nicht zuletztsozial Schwächere und Gemeindebau-Mieter, die in Scharen von der SPÖ zur FPÖ gewandert sind.
Sollte nun die selbst ernannte soziale Heimatpartei mit dabei sein, wenn der Sozialstaat an Wärme verliert und gleichzeitig die Mieten nach oben gehen, dann darf man getrost sicher sein, dass sich die SPÖ nicht lange bitten lässt, diesen aufgelegten Elfmeter zu verwerten. Erste Überlegungen werden bereits in der Wiener Löwelstraße, wo nicht nur die Bundes-, sondern auch die Stadtpartei residieren, gewälzt. Zu besonders günstigen Konditionen in bester Lage versteht, man ist ja schließlich bekennende Mieterpartei.
Aber im Ernst: Wohnen und Soziales taugen für die SPÖ hervorragend zum Kampagnenstoff und zur Mobilisierung, für die FPÖ steckt darin die Gefahr eines neuen Knittelfelds. Hier, in dieser steirischen Ortschaft, traf sich im September 2002 eine Hundertschaft von FPÖ-Delegierten, um der eigenen Regierungsmannschaft den Garaus zu machen. Das Urteil damals lautete: Verrat an den eigenen Prinzipien. Sicher, Geschichte wiederholt sich nicht, aber man kann den gleichen Fehler durchaus zwei Mal machen.
Makroökonomisch hängt der Himmel für Türkis-Blau voller Geigen: Das nominelle Wachstum Ende 2017 lag bei 5 Prozent und wenig spricht dagegen, dass die Konjunktur weiter auf Hochtouren läuft. Das schwemmt Milliarden in die Kassen des Staats und könnte der Koalition die eine oder andere Grauslichkeit aus budgetärer Notwendigkeit ersparen. Also warum nicht einfach abwarten und Tee trinken, schließlich muss man die Investoren und Konsumenten ja nicht mit Zwang verunsichern, wenn es gerade so gut läuft.
Kanzler Kurz vor einer schwierigen Entscheidung
Natürlich könnte auch die Strategie des geschickten Nichtstuns der Regierung später auf den Kopf fallen, wenn das Wachstum zurückgeht und die strukturellen Defizite des Standort Österreichs wieder in aller Munde sind. Und unbestritten ist, dass sich schmerzhafte Neuerungen am leichtesten in Zeiten der Hochkonjunktur umsetzen lassen. Aber das ist die Logik von Ökonomen, nicht von Politikern; zumindest nicht von solchen, die gerne in fünf Jahren wiedergewählt werden wollen. In einer Welt, die aus den Fugen scheint, ist es deshalb womöglich nicht die schlechteste Strategie einer fragilen Koalition, ihre politische Arbeit mit dem Backen kleiner Brötchen zu beginnen. Oder in den Worten des Bundespräsidenten bei der Angelobung der neuen Koalition: "Bewahren Sie das Gute und verbessern sie das, was verbessert werden muss."
Der neue Bundeskanzler steht vor einer schwierigen Entscheidung: Kurz hat die Wahl, in diesem Amt alt - oder jedenfalls deutlich älter - zu werden, indem er die Bürger nicht mit Veränderungen überfordert. Oder er kann ein Held für eine kleine Gruppe werden, indem er der Politik seinen Stempel aufdrückt und tut, was er für notwendig erachtet, wie es Wolfgang Schüssel vorgemacht hat. Doch Schüssel wurde nicht nur nie geliebt, sondern auch noch von Werner Faymann als Kanzler überholt.
Was die Wähler am 15. Oktober der Politik eigentlich sagen wollten
und die Folgen eines Missverständnisses.
Walter Hämmerle