Einst Schlupfloch nach Europa, heute wichtiger Wirtschaftsfaktor.
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Und plötzlich Europa. Gepflasterte Straßen mit akkuraten Bodenmarkierungen und futuristischen Ampelanlagen, gesäumt von eleganten spanischen Bürgerhäusern. Balkone und Blumenkisterl vor den Fenstern, Mistkübeln an jeder Straßenecke, Parkbänke zum Verweilen. Den blitzblanken Stadtstrand bevölkern Frauen in Bikinis. Durch die Fußgängerzone spazieren Familien, deren Kinder in Kinderwägen sitzen und deren Eltern Hunde an der Leine führen.
Im nur wenige Meter entfernten Marokko scheint all das zumindest exotisch. Dort werden Kinder nach wie vor mit Tüchern um den Leib gebunden getragen. Die Wohnhäuser sind traditionell nach außen hin schmucklos. Und Blumen verbrauchen kostbares Wasser. Badekleidung ist in der muslimischen Gesellschaft maximal in den Touristenhochburgen toleriert. Und Hunde zu halten, wenn dem Großteil der Bevölkerung regelmäßig das Essen knapp wird, ist ein Luxus, den sich kaum jemand leisten kann und will. Die Unterschiede sind umso kontrastreicher, da sich die spanische Stadt Ceuta mitten in den Ausläufern des Rif-Gebirges befindet, einer schwer zugänglichen ländlichen Region, die nicht zu den reichsten Marokkos zählt. Es sind zwei höchst unterschiedliche Universen, getrennt durch einen Grenzbalken.
80.000 Einwohner zählt das malerische Ceuta, eine spanische Stadt am Mittelmeer, umgeben von marokkanischem Festland. Gibraltar ist in Sichtweite der Halbinsel, die strategische Bedeutung der Stadt damit augenscheinlich. Ceuta ist eine von zwei spanischen Exklaven auf marokkanischem Festland. Ceuta und das 200 Kilometer östlich gelegene Melilla waren einst Teil der spanische Kolonie in Nordafrika und blieben auch nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 spanisch. Offiziell erhebt Marokko nach wie vor und immer wieder Anspruch auf die Gebiete, ernsthafte Schritte in diese Richtung unternehmen derzeit jedoch weder der König Mohammed VI. noch die Regierung. Und Spanien sieht wohl nicht ein, die Städte zu räumen, solange die Briten Gibraltar nicht freigeben.
Dazu argumentiert Spanien mit dem Gewohnheitsrecht mindestens dreier Jahrhunderte. Ceuta war vom 15. bis zum 17. Jahrhundert portugiesisch, danach übernahm Spanien die Kontrolle über die Stadt. An der derzeitigen Lage wird sich demnach wohl kaum etwas ändern in absehbarer Zeit.
Und so finden sich in der fast schon romantischen Kleinstadt katholische Kirchen anstelle von Moscheen, Tapa-Bars anstelle von Tajine-Restaurants und Diskont-Supermärkte anstelle von kleinen Greißlern. Wer glaubt, eine Stadt mitten im Orient müsse multikulturell sein, irrt gewaltig. Ceuta ist durch und durch europäisch. Von der mitteleuropäischen Zeit über den Euro bis hin zur Mode: An Marokko erinnert hier wenig. Es ist schlicht eine spanische Kleinstadt am Mittelmeer. Dass sie von Marokko umschlossen wird, merkt man jenseits der Grenze nicht.
In Ceuta werden alle Klischees bedient
Und die Nordafrikaner, die man in den Straßen erblickt, erfüllen meist Klischees. Es sind die Straßenkehrer, Zimmermädchen, Gärtner, Taxifahrer und Kellnerinnen der Stadt. Viele der marokkanischen Arbeitnehmer wohnen jenseits der Grenze, pendeln zur Arbeit. Für einen europäischen Lohn, und sei er noch so gering, ist ihnen fast jede Arbeit recht. Verglichen mit einem üblichen marokkanischen Gehalt von etwa 200 Euro ist auch der niedrigste Euro-Job hier finanziell mehr als lukrativ und erhält ganze Großfamilien. Einige Marokkaner haben sich aber auch in Ceuta selbst niedergelassen, die meisten von ihnen leben in einer Siedlung am Rande der Stadt in flachen, lehmfarbenen und so gut wie fensterlosen und demnach typisch marokkanischen Häusern.
Salma ist eine von ihnen. Sie arbeitet in einem Café im Zentrum Ceutas, das ein in den Niederlanden lebender Marokkaner hier eröffnet hat. Sie ist mit einem Spanier verheiratet. Mit einem Teil ihres Lohns unterstützt sie ihre Familie, die etwa 70 Kilometer im Landesinneren lebt. Im Ausland arbeitende Marokkaner wie sie, die Geld nach Hause schicken, sind ein wichtiger Finanzfaktor Marokkos geworden.
Wie die meisten in Ceuta lebenden Marokkaner wünscht sich Salma, dass die Stadt, die seit 1995 Autonomiestatus hat, spanisch bleibt. "Ich sehe keinen Vorteil darin, wenn Marokko diese Stadt zurückbekäme. Sie ist ein enormer Wirtschaftsfaktor in der Region, bringt Touristen, schafft gut bezahlte Arbeitsplätze und bringt Marokko Zolleinnahmen in Millionenhöhe."
Salmas Mann Yussef, Angestellter eines spanischen Unternehmens und seit der Hochzeit zum Islam konvertiert, sieht auch für die hier lebenden Spanier viele Vorteile: "Die Lebenshaltungskosten sind hier geringer als auf dem Festland, die Steuern niedrig. Es ist eine sehr lebendige und doch beschauliche Kleinstadt. Von der Krise sind wir hier bisher verschont geblieben." Er erzählt von Bekannten, die seit Beginn der Finanzkrise aus ganz Spanien hierher ziehen. Und das spanische Festland ist in einer guten halben Stunde per Fähre erreichbar. So manche Ferieninsel ist weiter vom spanischen Festland entfernt.
Dass es hier einen Schengen-Außenposten zu beschützen gilt, zeigt die enorme Polizeipräsenz in der Stadt, auch jenseits des Grenzpostens. Und der ist für europäische Reisende ein Ausflug in die Vergangenheit, als es auch in Europa noch so etwas wie Grenzkontrollen gab. Wartezeiten bei Ein- und Ausreise, patrouillierende Polizei mit Hunden, obligatorische Kofferraumkontrollen, Passstempel. Von der Grenzstation selbst zieht sich ein sechs Meter hoher Doppelzaun von einem Ende der Halbinsel zum anderen.
Auf der spanischen Seite des Niemandslandes zwischen den Staaten, versteht sich. Alle 40 Meter steht ein Wachturm, es gibt Richtmikrofone, Scheinwerfer, bis zu 1200 Grenzwachen und Militär. Der abschreckende Zaun wurde nach 1995 errichtet, als es zu einem Massenansturm auf die Grenze kam und hunderte Afrikaner versuchten, die Festung Europa zu entern. Denn Ceuta und Melilla galten lange als Schlupflöcher in die EU und zogen Einwanderungswillige und Asylwerber aus ganz Afrika an. Heute meist, ohne ihr Ziel zu erreichen, wie erst im August dieses Jahres ein Zwischenfall zeigte, in dem 300 Schwarzafrikaner versuchten, ins vermeintlich gelobte Land Europa zu gelangen. Großteils ohne Erfolg.
Hoffnung und Scheitern liegen knapp nebeneinander
Doch auch die Anziehung Ceutas ist ungebrochen. Im hügeligen Umland von Ceuta sitzen auch heute vereinzelt junge Männer afrikanischer Herkunft an den Straßenrändern, im Schutz von Bäumen und Sträuchern. Junge Männer, die auf ihre Chance hoffen, einzeln oder in kleinen Gruppen. Meist werden sie von der marokkanischen Polizei aufgegriffen, noch bevor sie nach Ceuta gelangen, und in ihre Heimat abgeschoben - nach Nigeria, Ghana oder die Elfenbeinküste.
Das Geschäft an der Grenze wird heute vor allem von den Kaufleuten gemacht. Grenzgänger ist hier ein eigener Beruf. Morgens nach Spanien, abends mit Ware zurück, Schlange stehen in einem eigens für Händler errichteten Korridor, der an einen Käfig erinnert. Ohne Transportmittel, zu Fuß, die schwere Last mit Riemen an den Kopf oder auf den Rücken geschnallt. Kleidung, Lebensmittel, Geschirr, Möbel - alles, was die spanischen Großmärkte zu bieten haben, wird gekauft, exportiert und auf den Märkten Marokkos feilgeboten. Besonders beliebt sind Energiedrinks, Schokolade und Käse. Doch nicht nur Kleinunternehmer beziehen ihre Waren in Ceuta, Kaufleute aus dem ganzen Land handeln mit Waren, die auf Containerschiffen in den Hafen Ceutas gelangt.
Im Stadtzentrum selbst merkt man von diesem geschäftigen Treiben und den schweren Lasten nur wenig. Bis spät abends flanieren Menschen durch die Fußgängerzonen, bevölkern Schanigärten, schlendern über den Strand oder kehren in eines der zahlreichen Restaurants der Stadt ein. "Ist das da drüben Spanien?", fragen wir eine Angestellte im Hotel, als wir auf der Terrasse den Blick über die Straße von Gibraltar bestaunen. Sie runzelt die Stirn. Ihre Antwort ist gleichermaßen von Stolz und Tadel gefärbt: "Sie sind hier in Spanien."