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Kleines Land

Von Ralf Beste

Gastkommentare
Ralf Beste ist seit September 2019 deutscher Botschafter in Österreich. Davor war der studierte Historiker als Journalist tätig, unter anderem für die "Berliner Zeitung" und den "Spiegel".
© Deutsche Botschaft Wien

Die Untertreibung der eigenen Größe sorgt nach außen für Verwunderung - vielleicht ist sie eine Lehre aus der Geschichte.


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Ich bin in einem kleinen Land aufgewachsen. Wenn ich als Junge in den Siebzigerjahren die ARD-"Tagesschau" sah, wiesen meine Eltern gelegentlich auf die zierliche Silhouette der westdeutschen Bundesrepublik auf der Weltkarte. Meine Eltern waren von den Folgen von Größenwahn und Krieg geprägt; ihre Erziehungsbotschaft erkannte ich auch am Schwarz-Weiß-Bildschirm gut: Dieses schmale Handtuch namens Deutschland hat global gesehen nichts zu melden.

Deutschland ist mit der Wiedervereinigung 1990 gewachsen, aber groß geworden ist es in meiner Wahrnehmung erst so richtig, seitdem ich in Österreich lebe. Denn den Status des "kleinen Landes" mag sich hier, so scheint es, niemand nehmen lassen, schon gar nicht von Deutschland. "Österreich ist ein kleines Land" - diesen Satz höre ich fast so oft wie: "Österreich ist ein schönes Land." Letzteren würde ich unterschreiben, mit dem ersteren hadere ich etwas.

Ein Blick auf die Fakten: Österreich ist die neuntgrößte Volkswirtschaft der 27 EU-Staaten und zugleich ökonomisch die Nummer 27 in der Welt. Ist das klein? Von den acht unmittelbaren Nachbarn haben drei eindeutig weniger Einwohner als Österreich, nämlich die Slowakei, Slowenien und Liechtenstein. Mit Ungarn, Tschechien und der Schweiz liegt man etwa auf einer Höhe. Nur zwei sind deutlich größer, nämlich Deutschland und Italien. Wenn Österreich klein sein soll, welches Adjektiv bleibt dann für die kleineren Nachbarn reserviert? Was sind heute überhaupt die Kriterien für Größe: die Zahl der Einwohner, der Soldaten oder der Nobelpreisträger, die Fläche oder das Bruttoinlandsprodukt?

Wir wissen alle, wie oft Selbst- und Fremdeinschätzung auseinandergehen. In meinem Lieblingscomic "Asterix als Legionär" wählt der - sagen wir: kräftige - Gallier Obelix in der römischen Kleiderkammer die Größe "Mittel". Entnervt schmeißt er bei der Anprobe die zu enge Rüstung dem Zeugwart an den Kopf. Ein österreichischer Obelix würde vermutlich "Klein" wählen. Der deutsche Obelix ist allerdings nicht anders, er bevorzugt "Mittel", was auch für Argwohn sorgt. Manchmal wird uns vorgeworfen, wir wollten uns damit der eigenen Führungsverantwortung entziehen. "Schluss mit der Heuchelei", schrieb ein Schweizer Autor einmal: "Deutschland ist eine Großmacht." Alles ist eben relativ, auch die Größe. Vermutlich ist es besser zu behaupten, das eigene Land sei klein, als die eigene Größe zu betonen. Die Lektion haben wir beide, Deutsche und Österreicher, gelernt.