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Kleinkrieg im Ruhrpott

Von Christian Hütterer

Wissen
Französische Truppen auf dem Weg nach Essen.
© Bain News Service, publisher / Public domain / via Wikimedia Commons

Vor hundert Jahren erschütterte die Ruhrkrise die junge Weimarer Republik - die Folgen waren Gewalt und Hyperinflation.


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Nur fünf Jahre nach ihrer Gründung erlebte die Weimarer Republik im Jahr 1923 eine Krise, die sie in ihren Grundfesten erschütterte. Gleich zu Beginn dieses Jahres spitzte sich der Konflikt zwischen den Siegermächten des Ersten Weltkriegs und der jungen deutschen Republik zu - wirtschaftliche Fragen und der Versuch Frankreichs, seinen Einfluss auszubauen, waren die Gründe dafür.

Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde im Jahr 1919 der Friedensvertrag von Versailles unterzeichnet. In diesem Dokument verboten die Siegermächte des Krieges dem besiegten Deutschland, in allen Gebieten links des Rheins sowie in einer 50 Kilometer breiten Zone rechts des Flusses Soldaten zu stationieren oder Befestigungen anzulegen. Die Siegermächte Frankreich, Belgien, Großbritannien und die Vereinigten Staaten besetzten jedoch selbst das Gebiet links des Rheins und die drei Städte Köln, Koblenz und Mainz.

Darüber hinaus wurde Deutschland für "alle Verluste und Schäden" des Krieges verantwortlich gemacht und zu Reparationen verpflichtet, die in Form von Geldzahlungen, aber auch von Güterlieferungen erfolgen sollten. Um die genaue Höhe festzulegen, wurde eine spezielle Kommission eingerichtet. Im Jahr 1921 setzte diese die Summe, die Deutschland zu zahlen hatte, auf 132 Milliarden Mark fest.

Frankreichs Forderung

Die Frage, ob genug und rechtzeitig gezahlt oder geliefert wurde, entwickelte sich rasch zu einem anhaltenden Streit zwischen Deutschland und den Siegermächten. Diese waren aber untereinander nicht einig. Die Regierungen in London und Washington sahen Deutschland als künftigen Verbündeten in Europa und versuchten, eine französische Dominanz auf dem Kontinent zu verhindern. Um Deutschland nicht zu sehr zu schwächen, wollten Großbritannien und die Vereinigten Staaten ihm bei den Reparationen entgegenkommen.

Frankreich, allen voran sein Ministerpräsident Raymond Poincaré, beharrte allerdings auf der Einhaltung der getroffenen Vereinbarungen. Immer wieder kam es zu Verzögerungen bei den Sachlieferungen und als Reaktion darauf besetzten im März 1921 französische und belgische Truppen die Städte Düsseldorf und Duisburg. Sie schufen damit nicht nur eine Aufmarschbasis für eine mögliche weitergehende Invasion in das Ruhrgebiet, das Zentrum der deutschen Schwerindustrie, sondern kontrollierten damit auch den Duisburger Hafen, der für den Export von Kohle und Stahl aus dem Ruhrgebiet wichtig war.

Nur zwei Monate später wurde Deutschland nach einer Konferenz der Siegermächte unter Druck gesetzt, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Sollten die Zahlungen weiterhin nicht pünktlich oder nur teilweise eintreffen, so drohte die Besetzung des gesamten Ruhrgebietes. Deutschland argumentierte, dass die schwierige Lage der Wirtschaft es unmöglich mache, die Forderungen zu begleichen. Die Spannungen stiegen und eskalierten schließlich im Dezember 1922. Eine Kommission der Verbündeten stellte fest, dass Deutschland Lieferungen zurückhalte und nur teilweise seinen Verpflichtungen nachkomme, weil es lediglich 11,8 Millionen Tonnen Kohle statt der geforderten 13,8 Millionen geliefert hatte.

Frankreich und Belgien nahmen diesen Bericht zum Anlass, um mit militärischer Gewalt ihre Forderungen einzutreiben, und besetzten mit 60.000 Soldaten das Ruhrgebiet. Die Besatzungstruppen sollten die Kohlegruben in der Region als Pfand sichern, um Deutschland zur Zahlung der Reparationen zu zwingen.

Es ging aber nicht nur darum, die fälligen Lieferungen sicherzustellen, der Einmarsch hatte auch einen politischen Zweck. Ministerpräsident Poincaré wollte das Gebiet links des Rheins und das Ruhrgebiet im besten aller Fälle zu unabhängigen Staaten machen. Deutschland hätte damit nicht nur sein industrielles Herz und damit viel Wirtschaftskraft verloren, sondern es wäre auch eine Pufferzone zwischen Frankreich und dem Rest Deutschlands entstanden. Sollte diese Lösung nicht gelingen, so wollte Poincaré ein Konstrukt schaffen, bei dem das besetzte Gebiet zwar nominell Teil Deutschlands bliebe, in dem aber faktisch Frankreich das Sagen gehabt hätte.

Die "Wiener Zeitung" meldete am 12. Jänner 1923 aus der Konfliktzone: "Nach den eingelangten Meldungen geht der Vormarsch der französisch-belgischen Truppen auf dem rechten Rheinufer normal vor sich. In der neuen Besatzungszone ist die Bevölkerung vollkommen ruhig, die Geschäfte sind geöffnet, der Verkehr ist nicht unterbrochen und in den Werkstätten wird die Arbeit fortgesetzt. Zwischenfälle wurden nicht gemeldet." Das sollte sich aber bald ändern.

Die deutsche Regierung reagierte auf den Einmarsch mit Zorn und Empörung. Reichskanzler Wilhelm Cuno setzte sämtliche Zahlungen und Lieferungen an Frankreich und Belgien aus und rief die Bevölkerung der besetzten Gebiete zum passiven Widerstand auf. Die Arbeiter traten in den Streik, der Verkehr wurde lahmgelegt, die Behörden führten die Befehle der Besatzer nicht aus, französische und belgische Soldaten wurden in Geschäften und Lokalen nicht bedient. Streikende montierten auf Bahnhöfen und Straßen Schilder ab, um den Besatzungstruppen das Leben schwerer zu machen.

Harte Besatzung

Damit der Verkehr und vor allem die Ausfuhren von Kohle nach Frankreich weiterlaufen konnten, holten die Besatzer Lokführer aus Frankreich und Belgien, mit denen sie den Streik umgehen wollten. Diese waren aber mit den deutschen Geräten nicht vertraut, und die Folge waren Unfälle, die erst recht die Eisenbahnlinien lahmlegten.

Die Franzosen und Belgier wollten den Widerstand mit einem harten Durchgreifen brechen, verhängten daher zahlreiche Strafen oder verbannten Menschen aus der Besatzungszone. Dies verschärfte die Lage allerdings nur noch und mündete in einer Radikalisierung. Sowohl Nationalisten wie auch Kommunisten verübten Sabotageakte und Anschläge gegen die Besatzungssoldaten - bald wurde dieser Widerstand unter dem Schlagwort "Ruhrkampf" populär.

Die Besatzungstruppen reagierten mit noch größerer Härte. Am Karsamstag 1923 drangen französische Truppen in die Krupp AG ein, um dort Fahrzeuge zu beschlagnahmen. Arbeiter des Stahlwerks versammelten sich vor der Wagenhalle und wollten die Franzosen daran hindern, die Lkw mitzunehmen. Die Lage eskalierte, die französischen Soldaten schossen in die Menge und schließlich blieben 13 Menschen tot zurück. Versuche der Besatzungstruppen, die Bevölkerung mit Feierlichkeiten und Veranstaltungen für die französische Kultur zu gewinnen, waren in dieser angespannten Situation zum Scheitern verurteilt.

Die deutsche Regierung hatte angekündigt, während des Streiks im Ruhrgebiet die Löhne der betroffenen Arbeiter zu übernehmen. Zugleich sanken aber die Einnahmen Deutschlands, weil durch die Besatzung des Ruhrgebiets die Regierung in Berlin keine Kontrolle mehr über einen wichtigen Teil der deutschen Industrie hatte. Kanzler Cuno half sich, indem er die Notenpresse anwarf und Geld druckte. Das Ergebnis: Die ohnehin schon hohe Inflation wurde durch diese Maßnahme noch befeuert und nahm dramatische Ausmaße an.

Die Mark war praktisch nichts mehr wert und verlor von Tag zu Tag an Kaufkraft. In Berlin zahlte man im Mai 1923 für ein Kilo Brot 474 Mark, zwei Monate später waren es 2.200 Mark. Im Oktober kostete ein Brot 14 Millionen Mark, im November schließlich über 5 Milliarden Mark. Wer zu dieser Zeit einen einzigen US-Dollar kaufen wollte, musste dafür 4 Billionen Mark hinlegen.

Die Löhne und Gehälter konnten mit dieser Entwicklung nicht mithalten, die logische Konsequenz waren soziale Unruhen und Proteste gegen die Regierung. Im September 1923 musste Kanzler Cuno zurücktreten. Sein Nachfolger wurde Gustav Stresemann, der angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung den passiven Widerstand gegen die Besatzungstruppen nicht mehr finanzieren konnte und den Streik im Ruhrgebiet beenden wollte. Dies führte wiederum zu politischen Turbulenzen. Die Regierung von Bayern sah diese Maßnahme als Verrat am gesamten deutschen Volk. Der Freistaat verhängte den Ausnahmezustand, was wiederum den deutschen Reichspräsidenten Friedrich Ebert veranlasste, den Ausnahmezustand für ganz Deutschland auszurufen.

Die Situation schaukelte sich immer mehr auf, bis schließlich im November 1923 ein gewisser Adolf Hitler versuchte, durch einen Putsch in München die Macht an sich zu reißen und von dort aus - wie es ihm Benito Mussolini in Italien vorgemacht hatte - nach Berlin zu marschieren. Der Putsch scheiterte und Hitler wurde in der Folge zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt.

Internationaler Druck

Weiter im Norden zeichnete sich inzwischen eine Einigung zwischen Deutschland und den beiden Besatzungsmächten Frankreich und Belgien ab. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien hatten die Besetzung des Ruhrgebietes von Anfang an kritisch gesehen, weil sie nicht nur eine französische Vorherrschaft in Kontinentaleuropa fürchteten, sondern auch eine Radikalisierung in Deutschland. Washington und London machten daher Druck auf ihre beiden Verbündeten, eine Lösung für die angespannte Situation zu finden.

Ende 1923 schloss die deutsche Kohle- und Stahlindustrie direkt mit den Besatzern (die deutsche Regierung in Berlin war allerdings in die Verhandlungen eingebunden) mehrere Abkommen über die von Paris und Brüssel geforderten Kohlelieferungen und Entschädigungszahlungen. Der Streik ging damit zu Ende und die Industrie konnte wieder ihren Betrieb aufnehmen. Wenige Monate später vermittelte Charles Dawes, der damalige Vizepräsident der Vereinigten Staaten, ein weiteres Abkommen über Reparationen, bei dem Rücksicht auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands genommen wurde.

Diese Regelung und eine Währungsreform - eine Billion alte Mark wurden dabei gegen eine einzige neue, sogenannte Rentenmark getauscht - sorgten für mehr wirtschaftliche und politische Stabilität. Auf die turbulente Phase folgte ab dem Jahr 1924 der Boom der "Goldenen Zwanziger", der allerdings mit der Weltwirtschaftskrise 1929 zu einem abrupten Ende kommen sollte.

Christian Hütterer, geboren 1974, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Wien und Birmingham, schreibt Kulturporträts und historische Reportagen.