Eine neue Form der Landwirtschaft, die gleich mehrere Probleme lösen könnte.
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Laut WWF ist die globale Nahrungsmittelproduktion für ein Drittel der Treibhausgase, 80 Prozent der Entwaldung, 70 Prozent des Verlustes an terrestrischer Biodiversität und 70 Prozent des gesamten Süßwasserverbrauchs verantwortlich. Dabei liegt es auf der Hand, dass unsere Nahrungsmittelproduktion noch drastisch gesteigert werden muss, um die steigende Nachfrage nach Nahrungsmitteln bei einer wachsenden Weltbevölkerung zu decken.
Was wäre, wenn es eine Lösung gäbe, um unsere wachsende Bevölkerung auf nachhaltige Weise zu ernähren? Eine Lösung, die besser für den Planeten, widerstandsfähiger und flexibler gegenüber klimatischen Unsicherheiten und Unterbrechungen der Lieferketten wäre? Was wäre, wenn diese Lösung auch näher am Verbraucher wäre, höhere Ernteerträge brächte und weniger Wasser und Land verbrauchen würde als herkömmliche Anbaumethoden?
Die sogenannte vertikale Landwirtschaft bietet genau das und entwickelt sich zu einem aufstrebenden Sektor. Darunter versteht man den Anbau von Nutzpflanzen in vertikal gestapelten Schichten. Normalerweise werden dabei Methoden der kontrollierten Landwirtschaft eingesetzt, die darauf abzielen, Wachstumsbedingungen zu optimieren. Diese Systeme werden in der Regel in geschlossenen Strukturen untergebracht, wo Umweltfaktoren wie Luft, Temperatur, Licht, Wasser, Feuchtigkeit, CO2 und Pflanzennahrung kontrolliert werden können.
In der Regel macht sich vertikale Landwirtschaft auch erdelose Anbautechniken wie Hydroponik (mit Nährstoffen angereichertes Wasser), Aquaponik (Fische fressen die Pflanzen und produzieren einen natürlichen Dünger) oder Aeroponik (Anbau von Pflanzen in Luft oder Nebel) zunutze. Vertikale Anbausysteme wurden in Gebäuden, Tunneln, Schiffscontainern und sogar in verlassenen Minenschächten errichtet. Im Jahr 2020 wurden weltweit schätzungsweise 30 Hektar vertikale Anbauflächen bewirtschaftet und hauptsächlich für den Anbau verschiedener Kräuter, Salate und Blattgemüse genutzt. Es gibt jedoch Stimmen, die prophezeien, dass in der Zukunft ganze Obst- und Gemüsekörbe mit Hilfe dieser Techniken angebaut werden könnten.
Da die Weltbevölkerung wächst und der Kampf gegen den Klimawandel an Fahrt gewinnt, bieten vertikale Farmen die Lösung für gleich mehrere Probleme. Ihre Vorteile sind vielfältig und reichen von einer effizienteren Wasser- und Flächennutzung über einen geringeren Einsatz von Pestiziden bis hin zu einem geringeren Transportaufwand, da die Lebensmittelproduktion näher an die städtischen Zentren verlegt werden kann. Darüber hinaus bietet vertikale Landwirtschaft die Möglichkeit der ganzjährigen Produktion und Schutz vor Umweltschocks, etwa ungünstigen Wetterereignissen.
Bananen aus urbanem europäischen Anbau
Eines Tages könnten wir zum Beispiel Bananen essen, die in einer europäischen Stadt angebaut werden. Die Befürworter einer nachhaltigeren Landwirtschaft setzen große Hoffnungen in vertikale Farmen. Anders Riemann, Geschäftsführer des dänischen Unternehmens Nordic Harvest, das die größte vertikale Farm Europas betreibt, plant den Anbau von 1.000 Tonnen Spinat, Rucola, Basilikum, Minze und Koriander pro Jahr, der zu 100 Prozent durch zertifizierte Windenergie versorgt werden soll. Laut Riemann würde der Anbau der gleichen Menge an Produkten mit herkömmlichen landwirtschaftlichen Methoden 467 Hektar Land (das entspricht etwa 500 Fußballfeldern) erfordern.
Auf der anderen Seite des Wattenmeers, in den Niederlanden, ist Erez Galonska, Mitbegründer des niederländischen Vertical-Farming-Start-ups Infarm, überzeugt, dass die vertikale Landwirtschaft nicht nur für Blattgemüse geeignet ist. Derzeit baut das Unternehmen mehr als 70 verschiedene Sorten von Kräutern, Salaten und Blattgemüse an. Infarm wurde vor kurzem durch eine Finanzierungsrunde über 200 Millionen Dollar, durch die das Unternehmen im Dezember 2021 zu einer Bewertung von mehr als einer Milliarde Dollar kam, zu Europas erstem "Einhorn" der vertikalen Landwirtschaft. Das Unternehmen will noch heuer sein Portfolio um Pilze, Erbsen und Erdbeeren erweitern.
Vertikale Anbaubetriebe sind auch in Deutschland, Frankreich und Großbritannien auf dem Vormarsch. So gibt es in Deutschland bereits die Association for Vertical Farming, die laut eigenen Angaben "führende globale Non-Profit-Organisation, die den internationalen Austausch und die Zusammenarbeit ermöglicht, um die Entwicklung der Indoor/Vertical-Farming-Branche zu beschleunigen". In Frankreich hat das Vertical-Farming-Start-up Jungle kürzlich 42 Millionen Euro für die Gründung eines Farming-as-a-Service-Unternehmens aufgebracht, das nun Farmen im Auftrag von Drittanbietern unterhält. Das Unternehmen bewirtschaftet einen mehr als einen halben Hektar großen Betrieb in der französischen Region Aisne. In Großbritannien erntet das in Worcestershire ansässige Unternehmen Shockingly Fresh bereits tausende Pak-Choi- und Salatbündel, die für die Supermarktregale bestimmt sind - in ihrem Fall in einer Farm mit natürlicher Beleuchtung.
Große Früchteaus zarten Keimen
Die Branche steht noch ganz am Anfang. Wenn die vertikale Landwirtschaft ihr Potenzial zur weltweiten Steigerung der Obst- und Gemüseproduktion ausschöpfen soll, muss die Vielfalt der Pflanzen, die in Innenräumen angebaut werden können, zunehmen. Die sogenannte CRISPR-Technologie (Genschere) ermöglicht zum Beispiel den vertikalen Anbau von Gurken und sogar Mangos. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Weizen oder Reis jemals in Innenräumen angebaut werden könnte, doch dürften städtische Farmen großes Interesse an Pflanzen haben, die wertvoll und zugleich leicht verderblich sind und bei denen Frische und geografische Nähe zum Verbraucher entscheidend sind.
Sollten diese Anwendungen der Gentechnologie zur Veränderung der Pflanzenarchitektur erfolgreich sein, könnten zunächst an Sträuchern und Weinstöcken wachsende Obst- und Gemüsesorten wie Himbeeren, Blaubeeren, Gurken, Paprika oder Weintrauben ihren Weg in vertikale Farmen finden, gefolgt von Spezialkulturen wie Hopfen, Vanille, Safran oder Kaffee. Es wäre sogar denkbar, eines Tages kleine Bäume wie Kakao- und Mandelbäume in Innenräumen anzubauen.
Davor gibt es allerdings noch viele Herausforderungen. Zum einen müssen die Kapital- und Betriebskosten der kontrollierten Landwirtschaft drastisch sinken. Wenn man sich jedoch an Theodore Wrights betriebswirtschaftliches Konzept der Erfahrungskurve hält, sollte dies eher früher als später geschehen.