Es ist vernünftig, so zu handeln, als wäre die Klimatheorie richtig, weil die Konsequenzen des Nicht-Handelns - falls sie doch stimmt - fatal wären.
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Wenn fast alle Wissenschafterinnen und Wissenschafter das Gleiche sagen, ist das nicht zwingend ein Zeichen für Gedankenarmut, wie jüngst Rudolf Bretschneider in einem Gastkommentar zur anthropogenen Erderwärmung vermutet hat. Es kann auch daran liegen, dass die Frage wissenschaftlich geklärt ist. Heute diskutiert auch niemand mehr, ob die Erde flach oder eine Kugel ist.
Möglicherweise war aber der Beitrag gar nicht ernst gemeint? Wie könnte der Autor Gedankenarmut kritisieren und dann selbst ernsthaft längst wissenschaftlich widerlegte Argumente hervorkramen, bravourös vermeintliche Aussagen von Klimawissenschaftern widerlegen, die diese nie gemacht haben, gezielt falsch Verstandenes wieder aufleben lassen und dabei in dem gesamten Kommentar keinen einzigen neuen Gedanken vorbringen? Wo bliebe da der Gedankenreichtum?
Zugegeben, es gibt noch offene Fragen in der Klimawissenschaft - welche natürlichen Prozesse könnten Menschen schon behaupten, vollständig zu verstehen? Auch lebt Wissenschaft vom Diskurs, sie muss sich also der Kritik stellen, und das tut sie auch. Aber auf die im Beitrag angeführten Fragen gibt es längst abgesicherte Antworten - nachzulesen in Büchern, in IPCC-Berichten und auf zahlreichen seriösen Websites. Wir sollten uns damit nicht mehr aufhalten. Denn eines ist klar: Kein Mensch, auch kein Klimawissenschafter, kann die "Richtigkeit" aller Aspekte der Klimatheorie persönlich überprüfen. Wenn man den Qualitätsprüfungsverfahren des Wissenschaftssystems nicht vertraut und daher zu der Erkenntnis kommt, dass man nicht wissen kann, ob die gängige Klimatheorie richtig oder falsch ist, dann muss man auf andere Weise zu Handlungsentscheidungen kommen.
Ständiges Aufwärmen längst diskutierter Fragen
Jede Risikobetrachtung wird zu dem Schluss führen, dass es vernünftig ist, so zu handeln, als wäre die Klimatheorie richtig, weil die Konsequenzen des Nicht-Handelns - im Fall, dass sie doch stimmt - fatal wären. Erweisen sich die Klimaschutzmaßnahmen als unwirksam, weil der Klimawandel andere Ursachen hat, dann haben sie kaum Schaden angerichtet, aber einigen Nutzen gebracht. Wir wären zum Beispiel weniger abhängig von importierten Energieträgern, das Geld wäre im Land geblieben, die Luftqualität wäre besser, landwirtschaftliche Böden hätten sich erholt und veränderte Ernährung hätte uns gesünder gemacht - Ziele, die auch Herr Bretschneider teilt. Das ständige Aufwärmen längst diskutierter Fragen zum Klimawandel stützt all jene in ihrer Untätigkeit, die entweder aus Bequemlichkeit oder aus kurzfristigen Partikularinteressen nicht handeln wollen. Die Risikobetrachtung zeigt: Das ist gefährlich.
Es fragt sich allerdings, warum ein Sozialforscher sich in die naturwissenschaftlichen Aspekte des Klimawandels verirrt, wenn es doch so viele sozialwissenschaftliche Fragen gibt, die - mit oder ohne Klimawandel - dringend einer Lösung bedürfen. Der Lebensstil der Industrienationen ist nicht auf die gesamte Welt übertragbar - dafür reichen die Ressourcen unseres Planeten nicht: Biowissenschafterinnen und Biowissenschafter warnen vor einem dramatischen Biodiversitätsverlust: Eine von acht Millionen Arten ist gefährdet! Die Versauerung der Meere ist ein gemessenes Faktum; der Trend ist beunruhigend angesichts des vergleichsweise geringen Verständnisses für das Ökosystem Meer und seine Bedeutung als Nahrungs- beziehungsweise Proteinquelle für Millionen Menschen.
Platz schaffen für neues Denken, verankerte Strukturen auflösen
Wer sich mit der Entwicklung von Lebensstilen in Gegenwart und Zukunft, mit der Konsumgesellschaft, mit Markt- und Meinungsforschung befasst hat, könnte sehr viel beitragen zu der Frage, wie die Transformation einer Gesellschaft gelingen kann, die nicht den Marktkräften anheimgestellt wird, sondern die eine erwünschte Richtung, nämlich die Nachhaltigkeit, hat. Wie können Wirtschaftsmodelle, die - viel schlimmer als die vergleichsweise kleinen Unsicherheiten der Klimamodelle - in ihren Grundannahmen wirklichkeitsfremd sind, entthront werden, um Platz zu schaffen für neues Denken? Wie gelingt es, wirtschaftliche, soziale, politische und Denkstrukturen aufzulösen, die so tief verankert sind, dass sie nicht einmal mehr als veränderbar wahrgenommen werden? Wieso gelingt es, Ängste vor einer Öko(logie)-Diktatur zu schüren, ohne dass bemerkt wird, dass wir längst in einer Öko(nomie)-Diktatur leben?
Wie kann Arbeit neu definiert werden in einem gesellschaftlichen System, das den Ressourcenverbrauch reduziert und zugleich die Schere zwischen armen und reichen Nationen und Menschen zu schließen hilft? Wie kann das große Potenzial der Digitalisierung zur Effizienzsteigerung genutzt werden, während ihr viel größeres Potenzial, den Ressourcenverbrauch anzuheizen, ausgeschaltet wird? Wie kann das Primat der Effizienz in unserer Wirtschaft gebrochen werden und Resilienz den ihr gebührenden Platz einnehmen? Fragen über Fragen, die zu stellen, zu diskutieren und zu lösen unabhängig vom Klimathema dringend ist.
Aber selbst wenn Herr Bretschneider ernsthaft meint, dass die Reduktion von Treibhausgasen "verlorene Angstmüh" sei, dann bliebe ihm als Sozialforscher immer noch die große Herausforderung, der Gesellschaft behilflich zu sein, mit der - dann offenbar natürlichen - globalen Erwärmung umzugehen. Die Folgen der Erwärmung sind unabhängig von deren Ursache. Er träfe sich dabei mit den Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, die meinen, dass es für Klimaschutz zu spät sei, dass eine Entwicklung in Richtung "Hot House Earth" unvermeidlich geworden sei. Unter dem Schlagwort "Deep Adaptation" befassen sie sich mit Maßnahmen, die erforderlich wären, um möglichst vielen Menschen möglichst lange ein Überleben in Würde zu ermöglichen.
Interessanterweise decken sich viele dieser Maßnahmen mit solchen, die zur Reduktion der Treibhausgas-Emissionen beitragen. Und so könnten doch wieder viele an einem Strang ziehen, wenn auch aus verschiedenen Gründen.