Vor 125 Jahren, am 12. Juni 1897, wurde das Schweizermesser patentiert. Auf der Spur einer Erfolgsgeschichte.
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Ein Rendezvous im Weltall, vierhundert Kilometer von der Erde entfernt, doch die Tür in die russische Raumstation Mir geht nicht auf. Der NASA-Astronaut Chris Hadfield rüttelt an den Griffen, doch die Einstiegsluke rührt sich nicht, bleibt verklebt und mit Kabeln verschnürt "wie eine Mumie". Das 1995 politisch aufgeladene und als ein Symbol der Aussöhnung zwischen den Supermächten inszenierte Andockmanöver des US-Spaceshuttles droht zu scheitern. Da denkt der Weltraumfahrer in "erdigen" Kategorien, zieht sein Schweizermesser aus der Tasche, fängt zu schneiden und zu schrauben an und "bricht in die Mir ein" - Mission erfüllt!
Carl Elsener erzählte diese Anekdote bei einer Geburtstagsfeier zum 125-Jahr-Jubiläum für das "Original Schweizer Offiziers- und Sportmesser" vor ein paar Tagen am Firmenstandort der Messerfirma Victorinox im zentralschweizer Ibach ums Eck vom Vierwaldstättersee. Die Moral aus der Astronauten-Geschichte ist für den CEO des Unternehmens auch der Grund für den welt(raum)weiten Erfolg des roten Messers: "Weil es zuverlässig ist, weil es ein Multi-Talent ist, weil es noch niemanden enttäuscht hat."
Der Mittsechziger Elsener hat einen Namenszusatz, den man sonst nur von Päpsten, Kaisern, Königen kennt. Die römische IV, die seinem Namen beigestellt wird, passt auch gar nicht zur unprätentiösen Erscheinung des Konzernchefs. Er pfeift gern, fällt einer Angestellten - nach Elsener befragt - als erstes ein; das kleinste Auto auf dem Firmenparkplatz ist seines, lautet ein anderes Charakteristikum für ihn. Hoch angerechnet wird ihm, dass er die 1.000 Mitarbeiter am Firmenstandort Ibach beim Namen kennt und bei den Weihnachtsfeiern allen die Hände schüttelt.
Als Orientierungshilfe im Victorinox-Adel ist die Zahl IV aber unerlässlich. Denn Nummer Vier ist der Sohn von Carl Elsener III, Enkel von Carl Elsener II und Urenkel des Messerschmieds Karl Elsener I, der sich am 12. Juni 1897 seine bahnbrechende Taschenmesser-Entwicklung gesetzlich schützen ließ.
Einige Jahre davor hatte der Begründer der Messer-Dynastie den Verband Schweizerischer Messerschmiedmeister gegründet. In diesem Verbund gelang es ihm, sich gegen die Konkurrenz aus dem deutschen Solingen durchzusetzen und einen Großauftrag für die Schweizer Armee zu gewinnen. Die Funktionen dieses klappbaren Messers waren dem Soldatenleben angepasst: Große und kleine Klinge sowie Büchsenöffner für Brot, Käse, Wurst und Dosenmenage. Die Ahle zum Flicken und der Schlitzschraubenzieher zum Zerlegen des Gewehrs.
Doch dem ursprünglich auf Rasiermesser spezialisierten Tüftler Elsener waren diese Soldatenmesser zu plump. Er baute ein leichteres Offiziersmesser. Aber trotz der Zusatzfunktion Korkenzieher für die höheren Chargen ließen sich die Schweizer Militärs nicht dafür begeistern - zum Glück für alle Zivilisten weltweit. Damit das Schweizer Taschenmesser aber ein Welterfolg wurde, brauchte es doch Soldaten, nennt Elsener einen wichtigen Entwicklungsschritt in der Firmengeschichte: Die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa stationierten GIs entdeckten das Taschenmesser mit dem Schweizerkreuz am roten Griff als ideales Mitbringsel aus Good old Europe, exportierten das praktische Souvenir in großer Zahl nach Amerika und etablierten den globalen Markennamen "Swiss Army Knife" gleich mit.
Auf das Messer-Jubiläum angestoßen wurde in einer Halle des Unternehmens. Wer durch das Oberlicht schaute, sah die Felspyramide des Großen Mythen aus dem Schwyzer Alpenstock herauswachsen. Riesengroß sind auch die Produktionszahlen in der Messerschmiede: Aus Hunderttausenden Einzelteilen werden jeden Tag 45.000 Taschenmesser gefertigt - das sind alle zwei Sekunden ein neues Messer.
Firmenmutter Victoria
Dazu kommen noch täglich 90.000 neu geschmiedete Haushalts- und Berufsmesser. Seine Happy-Birthday-Rede hielt Elsener vor Regalen voller Stahlbänderrollen. Zweieinhalbtausend Tonnen davon verarbeitet die Schmiede pro Jahr. Und damit die Stanz-, Schleif-, Prägemaschinen bei Lieferschwierigkeiten weiter Messer stanzen, schleifen, prägen können, lagert in den Magazinen ein Jahresbedarf an rostfreiem Stahl.
Inox heißt der aus dem Französischen (inoxydable) stammende Fachbegriff dafür, den die Messerschmiede als zweiten Teil ihres Firmennamens "Victorinox" verwenden. An erster Stelle steht im Namen wie in der Unternehmensgeschichte Victoria, die Mutter von Elsener Nr. 1 und Ur-Urgroßmutter des heutigen Firmenchefs.
Sie habe Mitte der 1880er Jahre das Start-up ihres Sohns unter anderem dadurch unterstützt, dass sie ihm die Auslage ihrer Krämerei für seine Messer zur Verfügung stellte. Als Dank für den Glauben an ihren Sohn und seine Produktidee ist das Unternehmen seit 1909 nach der Ahnfrau benannt. Und wird nach wie vor als Familienbetrieb geführt. Wobei die Firmencharta die Prioritäten festlegt: Das Unternehmen kommt vor der Familie - die sehr groß ist: Der jetzige Chef hat zehn Geschwister. Noch fast alle von ihnen arbeiten im Unternehmen, und die Mitglieder des Clans schmieden in allen Abteilungen ihrer "Messerschmitte", wie Victorinox von den Einheimischen genannt und von ihnen als größter privater Arbeitgeber im Schwyzer Talkessel geschätzt wird.
Um bei der Urmesser-Party nicht nur aus der Firmengeschichte zu erzählen, sondern diese auch lebendig werden zu lassen, zeigte Elsener eine originalgetreue Nachbildung des ersten Offiziers- und Sportmessers. Als Erinnerung an das Markenjubiläum baut Victorinox das "Replica 1897" in einer limitierten Auflage von 9.999 Stück. Ein Exemplar davon wird nicht in den Verkauf gehen, sondern im Messer-Archiv des Unternehmens landen. Im "Heiligtum", wie die Schatzkammer ein Mitarbeiter nennt, der die dort unter strengen Sicherheitsvorkehrungen verwahrten Klingen-Preziosen nur mit Handschuhen angreift.
Der Weg ins "Fort Knox" von Victorinox beginnt in den Messerwerkstätten, die sich als stampfende, zischende, fauchende, rauschende Hightech-Schmiedeessen präsentieren. Astronaut Hadfield hätte seine Freude an den minutiös getakteten Arbeitsschritten, die Millionen Einzelteile stanzen, schleifen, härten, prägen und diese dann zu Hunderttausenden Universalwerkzeugen in unterschiedlichsten Fassonen zusammenbauen.
Haargenau geschliffen
Was die Präzision betrifft, bleiben die Schwyzer Messerschmiede nicht hinter Space-Shuttle-Anforderungen zurück: Geschliffen werden die Klingen und anderen Werkzeuge mit einer Toleranz zwischen einem und zwei Hundertstelmillimeter. Menschenhaar ist zwischen 0,05 und 0,08 Millimeter dick. Da wundert es nicht, dass Hadfield mit seiner genauer als haargenau geschliffenen Klinge sogar in ein russisches Raumschiff mit Namen "Frieden" eindringen konnte. Leider wird nicht einmal in Ibach ein Werkzeug geschmiedet, das den Frieden zwischen Ost und West so schnell wird wieder ausbrechen lassen können.
Als letzte Station beim Werkstättenrundgang steht eine Werkbank, an der die Besucher unter Anleitung einer Expertin ihr eigenes Schweizermesser bauen können. Neben anderen Prominenten saß auch das US-Präsidentenpaar George und Barbara Bush an dieser Bank und schmiedete seine Swiss Army Knives. Der Präsident war schneller fertig und rieb seinen Vorsprung der First Lady unter die Nase. Die konterte mit einer Replik, die Victorinox als Werbeslogan übernehmen könnte: "George, es geht hier nicht um Zeit, hier zählt Qualität!"
Die auch die NASA zu schätzen weiß, weshalb das Taschenmesser seit den 1970er Jahren zur Grundausstattung jedes Astronauten gehört - zurecht, wie Hadfields rettender Griff um das kleine Rote bewiesen hat. Der Papst setzt ebenfalls neben der Schweizer Garde auf ein persönlich gewidmetes Schweizermesser. Und ohne sein Exemplar im Hosensack hätte sich auch TV-Serienstar MacGyver bei der einen oder anderen Weltrettungsaktion schwerer getan. Nicht zu vergessen die kleinen und großen Alltagshelden überall auf der Welt mit ihren Schnitz-, Bohr-, Schraub-, Blechdosen- und Bierkapsel-Herausforderungen oder diesen und jenen Pinzette-, Zahnstocher-, Nagelfeile-Bedürfnissen.
Mit Fonduegabel
Der Markenbezeichnung "Offiziersmesser" gerecht werdend, stellen Streitkräfte nach wie vor ein wichtiges Kundensegment: Die deutsche Bundeswehr und die Armeen von den Niederlanden über Malaysia bis nach Australien schwören auf Schweizer Messerlösungen. Die Version für indische Soldaten ist als außergewöhnliche Zusatzfunktion mit einem langen Dorn, ähnlich einem Haifischzahn, "zum Knotenlösen" ausgestattet. Ein spezielles Werkzeug für Zivilisten mit Schweizbezug ist das Messer inklusive Fonduegabel. Auch das Golfer-Messer mit Ballmarkierer oder das Rettungskräftemodell mit Verbundglas-Schneider oder die Varianten mit USB-Stick, Wasserwaage, Bleistiftspitzer, Kugelschreiber, Kartoffelschäler beweisen Zielgruppenorientierung. Zwei bis drei neue Taschenmessermodelle kommen jedes Jahr neu dazu. Sechs Millionen Schweizer Franken und 21 Jahre Mannstunden wurden allein in die Entwicklung des "Swiss Tool", ein Werkzeugkasten im Messerformat, investiert.
Der Victorinox-Chef bekam sein erstes Taschenmesser als Fünfjähriger: "Dieser Moment hat sich bei mir eingebrannt", sagt er, "denn es steckte die Aussage drin: Du bist jetzt reif genug, ein Stück erwachsener." Auch für den Sohn der Messer-Familie "war es etwas Besonderes, ein Taschenmesser geschenkt zu bekommen".
Die ganz besonderen Messer verwahrt Victorinox im bereits avisierten Archiv. Neben Firmen-Devotionalien wie der Gründungsurkunde des Schweizer Messerschmiedeverbands oder dem "Geschmacksmuster" für die Patentierung vor 125 Jahren lagern dort 27.000 Messer-Raritäten, angefangen von Modellen aus der Steinzeit, fokussierend aber auf 22.000 Exemplare aus der eigenen Produktion. Die wertvollsten Unikate sind im Tresor eingesperrt. Neben einem mit 800 Diamanten besetzten Messer der "Collection Victoria Serie I" liegt dort sicher verwahrt eine NASA-Leihgabe aus dem Weltraummesser-Sortiment. Noch wertvoller als dieses All-Messer ist aber der damit einhergehende Ratschlag von Astronaut Chris Hadfield zum Swiss Army Knife: "Verlass den Planeten niemals ohne eines."
Wolfgang Machreich lebt als freier Autor und Journalist in Wien.