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Großbritannien steht beim Brexit vor schwerwiegenden Entscheidungen - und weiß noch immer nicht, was es will.
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London/Brüssel. 500 Tage ist es her, dass eine knappe Mehrheit britischer Wähler für den Austritt aus der EU stimmte. Nicht mehr ganz 500 Tage sind es, bis dieser Austritt in Kraft treten soll. Just an diesem Punkt aber findet sich die britische Politik in einem Zustand kompletten Durcheinanders. Die Verhandlungen mit der EU stocken. Premierministerin Theresa May weiß nicht, ob sie Kompromisse schließen oder auf Geheiß ihrer Brexit-Hardliner die Gespräche abbrechen soll. Ihr Kabinett scheint in Auflösung begriffen. Im Parlament aber formiert sich, auch unter Tory-Abgeordneten, zunehmender Widerstand gegen das Chaos in Downing Street.
Wo sind die Verhandlungen mit der EU bis jetzt angekommen?
Das künftige Verhältnis Großbritanniens zur EU kann ja nur ausgehandelt werden, wenn "genügend Fortschritte" bei der Loslösung von der Union gemacht worden sind. Dieser Vorgehensweise hat ursprünglich auch London, wenn auch widerwillig, zugestimmt. Zu klären sind das Maß der finanziellen Verpflichtungen der Briten gegenüber der EU und die Frage, wie sich eine harte Grenze quer durch Irland vermeiden lässt. Außerdem geht es um das Schicksal von EU-Bürgern in Großbritannien und von Briten auf dem Kontinent nach dem Brexit. Zumindest da scheint es in den letzten Monaten zu einer Annäherung gekommen zu sein.
Das Geld ist ein Problem geblieben?
Bisher hat Theresa May etwa 20 Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Ihre EU-Partner erwarten wesentlich mehr. Im Gespräch sind 50 bis 60 Milliarden Euro. Mays Problem ist es, ihren Brexit-Hardlinern eine derartige Summe schmackhaft zu machen. Die Brexit-Wortführer in ihrem Kabinett scheinen zum Einlenken bereit zu sein. Viele Tory-Hinterbänkler und große Teile der Rechtspresse lehnen aber jeden Kompromiss ab. Sie wollen lieber "keinen" als "einen schlechten Deal" mit Europa. So hat es ja auch May einmal formuliert.
Könnte die irische Grenze noch zum Hindernis für eine Vereinbarung werden?
Lange wurde es in London gar nicht für nötig gehalten, sich viele Gedanken über Irland zu machen. Es solle keine "harte Grenze" geben, hieß es immerzu. Mit elektronischer Güter-Überwachung und diskreten Kontrollen abseits der Grenze lasse sich das Problem ohne weiteres lösen. Das halten die Iren für reines Wunschdenken. Sie gehen davon aus, dass nur der Verbleib der Briten in der Zollunion der EU eine harte Grenze verhindern könnte. Oder zumindest die Bindung Nordirlands an alle EU-Zoll-Bestimmungen. Gegen eine derartige Regelung stemmen sich aber Nordirlands Unionisten, auf deren Unterstützung May in Westminster angewiesen ist.
Wie viel Zeit bleibt für eine Einigung?
Michel Barnier, der Chefunterhändler der EU, hat am Freitag von zwei Wochen gesprochen. Er will Fortschritte bei den Trennungsvereinbarungen noch in diesem Monat sehen. Sollte es beim EU-Gipfel am 14./15. Dezember keine Zustimmung für den Start zu Gesprächen über die künftigen Beziehungen und über eine Interimsphase geben, verschiebt sich der Zeitplan um zwei bis drei Monate. Das ist ein echtes Problem für Wirtschafts- und Finanzkreise, die darauf dringen, "endlich Klarheit" zu erhalten - möglichst noch in diesem Jahr.
Was schwebt den Briten überhaupt vor?
Interesse an einer Übergangslösung hat ja auch Theresa May bekundet. Zwei bis drei Jahre lang würde Großbritannien weiter EU-Bestimmungen akzeptieren, um seiner Wirtschaft Zeit zum Planen zu geben und die nötigen Vorbereitungen für die endgültige Trennung zu treffen. Nach Ablauf dieser Frist soll Großbritannien dann "vollständig souverän" sein, keine Beiträge mehr an die EU zahlen müssen, den freien Zuzug von Europäern stoppen dürfen und nichts mehr zu schaffen haben mit dem Europäischen Gerichtshof. Dennoch erwartet man sich eine Sonderbehandlung - vor allem freien Zugang zu den EU-Märkten. Das halten Kritiker der Regierung für "reine Illusion".
Was ist, wenn es zu keiner Einigung kommt vor März 2019?
Falls es keine Übereinkunft gibt, würde Großbritannien nach den Vorgaben der Welthandels-Organisation (WHO) Handel treiben. Was dann aus den drei Millionen EU-Bürgern in Großbritannien würde, ist unklar. Eine harte Grenzziehung durch Irland, aber auch etwa im Fährhafen Dover, wäre unumgänglich. Wie viel Chaos ein solcher Schritt im Königreich auslösen würde, bleibt umstritten. Eine Reihe von Studien dazu hat die Regierung in London bisher geheim gehalten. Sie muss es aber, nach einem jüngst gefassten Parlamentsbeschluss, noch heuer offenlegen.
Könnte das britische Parlament verhindern, dass das Land "über die Klippe stürzt", wie Brexit-Gegner warnen?
Das kommt darauf an, wofür sich die Pro-Europäer im Regierungslager entscheiden. Wegen der Gemengelage im Unterhaus bräuchte es rund ein Dutzend Tory-Abgeordnete, die sich einem harten Brexit zusammen mit der Opposition in den Weg stellen müssten. Gelegenheit dazu gibt es ab heute, Dienstag, wenn Zeile um Zeile das 66-seitige "Gesetz zum Abzug aus der EU" behandelt wird.
Einige Tories haben ja angekündigt, dass sie rebellieren wollen?
Wichtig ist vor allem die Frage, ob das Parlament das Recht für sich beansprucht, über ein Verhandlungsergebnis in eigener Regie zu bestimmen. May verlangt, dass Großbritannien automatisch "ohne Deal" aus der EU ausscheidet, falls das Parlament die ausgehandelte Vereinbarung nicht billigt. Eine wachsende Zahl von Abgeordneten will aber notfalls eine Pause vom Austritt erzwingen - oder gar einen Abbruch der Trennungsgespräche mit der EU.