"Wenn das die Linie der neuen Prager Regierung ist, dann ist das die Fahrkarte Tschechiens ins wirtschaftspolitische Abseits." Die Stellungnahme des FPÖ-Generalsekretärs Peter Westenthaler im "Kurier" vom vergangenen Freitag macht deutlich, dass die tschechisch-österreichischen Beziehungen einem neuen Tiefpunkt entgegensteuern. Dem Kommentar des FPÖ-Politikers vorausgegangen war die Aussage des voraussichtlich neuen tschechischen Ministerpräsidenten Vladimir Spidla, er werde in Sachen Temelín und Benes-Dekrete mit Wien nicht verhandeln: Dialogverweigerung auf der einen, kaum verhüllte Drohungen auf der anderen Seite. Die "Wiener Zeitung" hat sich umgehört, wie Experten abseits politischer Wortwechsel den langsam chronisch werdenden österreichisch-tschechischen Streit beurteilen.
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So mancher Politiker in Österreich hegte die Hoffnung, dass mit Beendigung eines hitzigen Prager Wahlkampfes und einem Wechsel an der Spitze der tschechischen Regierung die Möglichkeit einer politischen Richtungsänderung verbunden sein könnte. Das ist - zieht man die letzten Wortmeldungen aus Prag in Betracht - nicht der Fall. An Benes-Dekreten und Temelín will auch die künftige Regierung nicht rütteln, so scheint es.
Wenn der Karren festgefahren und keinerlei Bewegung erkennbar ist, ein politisches Problem einem gordischen Knoten immer ähnlicher wird, schlägt zumeist die Stunde der Experten. Und hier sind es vor allem die Historiker Oliver Rathkolb und Arnold Suppan, die Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi und der tschechische Botschafter in Wien, Jiri Grusa, denen in Sachen tschechisch-österreichischer Zwietracht verstärkt Gehör geschenkt werden sollte.
Denn der Schein trügt
In einem Punkt sind sich alle Genannten einig: Die derzeitige Missstimmung zwischen Prag und Wien ist im wesentlichen nicht Resultat eines oberflächlichen politischen Hick-Hack, aus dem auf beiden Seiten politisches Kapital geschlagen werden soll. Hier ist tiefer zu schürfen, weit in die Geschichte zurückreichende Verwundungen, Missverständnisse und Rivalitäten zu berücksichtigen und aufzuarbeiten. So verweist der Historiker Oliver Rathkolb im Fall der Benes-Dekrete beispielsweise darauf, dass es auf tschechischer wie auf sudetendeutscher Seite Geschichtsbilder und Wahrnehmungen gebe und gegeben habe, die "isoliert, ja fast ethnisch abgegrenzt" seien. Was man sich darunter vorstellen kann, erläutert die Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi anhand ganz persönlicher Erinnerungen. Sie wurde in Prag als Deutsche geboren, ging dort zur Schule, wurde 1945 vertrieben. Wenn sie sich heute mit gleichaltrigen tschechisch- sprachigen Pragern unterhalte, die mit ihr "zur gleichen Zeit, am gleichen Ort" gewesen seien, so erhalte sie den Eindruck, ihre Gesprächspartner wären "auf einem anderen Kontinent aufgewachsen". Jeder erinnere sich an völlig andere Ereignisse, jeder habe beispielsweise andere Bauwerke im Kopf. Für Coudenhove-Kalergi drängt sich als Analogie das derzeitige Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern auf. Keine gute Voraussetzung für gedeihlichen bilateralen Dialog.
Ein nach ethnischen Gesichtspunkten getrenntes, "kollektives Gedächtnis" - zwei völlig unterschiedliche Geschichtsvorstellungen. Die gilt es zuerst einmal kritisch zu hinterfragen. Wie das gehen kann, zeigt Osteuropaexperte Arnold Suppan, der der Diskussion um die Benes-Dekrete "sachliche Unkenntnis" vorwirft. Oft würden auch richtige Argumente in einen falschen Zusammenhang gestellt. So sei beispielsweise die Ansicht Nonsens, die Benes-Dekrete hätten die Vertreibung der Sudetendeutschen angeordnet. Solche Dekrete "gibt es nicht", derartige Pläne seien "in der Schublade geblieben", so Suppan.
Einen Ansatz um zu zeigen, dass sich Tschechen und Sudetendeutsche in ihrer politischen Fehleinschätzung gar nicht so unähnlich waren, bietet Tschechiens Botschafter in Wien, Jiri Grusa: Die Begeisterung, mit der seine Landsleute die Rote Armee 1945 empfangen hätten, sei "lächerlich ähnlich" mit der gewesen, die die Sudetendeutschen 1938 den einmarschierenden Nazis entgegenbrachten: "Kaum ein tschechischer Schriftsteller, der damals nicht ein Gedicht auf die Rotarmisten verfasst hätte", mokiert sich der Diplomat.