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Koalition als Kulturschock: Briten sind Freunde klarer Machtverhältnisse

Von Michael Schmölzer

Analysen

Am 6. Mai wählen die Briten ein neues Parlament und alles deutet darauf hin, dass das Resultat ein höchst ungewöhnliches sein wird: Denn laut Umfragen erreicht diesmal keine Partei die absolute Mehrheit - also wird der Wahlsieger eine Minderheits- oder eine Koalitionsregierung bilden müssen.


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Was in Kontinentaleuropa die Regel ist, wird auf der Insel als Abnormität gehandelt und sorgt für Verunsicherung. So wird bereits die Frage gestellt, wie eine allen kulturellen Regeln Hohn sprechende Regierung mit den Herausforderungen der Wirtschaftskrise fertig werden soll.

Tatsächlich ist es mehr als 30 Jahre her, dass in Großbritannien keine Partei als absoluter Sieger aus Wahlen hervorging. 1974 musste Harold Wilson (Labour) eine Minderheitsregierung bilden - was auch damals als untragbarer Zustand angesehen wurde. Wenig später rief man die Briten erneut zu den Urnen, diesmal schaffte Wilson den Sprung über die 50-Prozent-Marke. Beobachter meinen, dass es auch 2010 zu einem zweiten Wahlgang kommen wird, sollten die Tories, die als Favoriten gehandelt werden, den klaren Sieg verfehlen.

Dass bei den Briten Koalitionen so gut wie unbekannt sind, liegt an den Eigenheiten des Wahlrechts. Es teilt das Land in Wahlkreise auf, ins Parlament kommt der Kandidat, der die meisten Stimmen auf sich vereinen kann. Alle übrigen Stimmen verfallen. Das hat weitreichende Konsequenzen für das politisches System: Zunächst einmal zementiert es jene Zwei-Parteien-Landschaft ein, die die Briten seit jeher gewohnt sind. Kleinere Parteien haben unter diesen Bedingungen keine Chance, als relevante Kraft ins Parlament einzuziehen. Das, so argumentieren Verfechter des Mehrheitswahlrechts, habe durchaus seinen Sinn: So würden radikale Fraktionen wie die Rechtsextremen aus dem Hohen Haus verbannt. Zudem sei für klare Machtverhältnisse gesorgt. Die Siegerpartei hat alleinige Regierungsverantwortung und kann ihr Reformprogramm durchziehen. Das österreichische Proporzsystem, das zum politischen Stillstand neigt, wäre in Großbritannien völlig undenkbar.

Kritiker des britischen Systems führen ins Treffen, dass es den Wählerwillen verzerre. So ist es möglich, dass eine Partei zwar mehr Stimmen bekommt, aber weniger Delegierte ins Parlament schicken kann als die Gegner-Fraktion. Zudem werden unter Umständen Mittel- oder sogar Großparteien systematisch zu politischer Bedeutungslosigkeit verdammt. Darunter leiden die im Aufwind befindlichen Liberalen, die schon 1983 rund 25 Prozent der Stimmen, aber nur 23 von 650 Parlamentssitzen erreichten. Deshalb sind es gerade die im Aufwind befindlichen Liberalen, die am vehementesten eine Wahlrechtsreform fordern.