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Kochen gegen Vorurteile

Von Silviu Mihai

Politik
Wo es schmeckt, fallen vielleicht auch Vorurteile, das ist der Hintergedanke beim Roma-Restaurant Romani Platni.
© László Mudra

Integration geht über den Magen: In Budapest floriert ein Restaurant, in dem Roma-Frauen typische Gerichte kochen.


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"Heute gibt es eine Sauerkraut-Speck-Suppe als Vorspeise, dann geht es weiter mit geräuchertem Hähnchen in Paprika-Tomaten-Soße", verkündet feierlich Malvin Német, nachdem sie sich allen unbekannten Gästen als "Tante Malvin" vorstellt. Die kleine, permanent gutgelaunte 70-Jährige spricht laut und hat eine tiefe, fast männliche Stimme. Nicht selten singt und tanzt sie Volkslieder vor den Kochtöpfen, sie trägt altmodische Ohrringe und ihre kleinen, schwarzen Augen glitzern aus dem runden Gesicht. "Als Nachtisch backen wir gleich einen Zsurmó, also eine Art Nudelauflauf mit Pflaumenmousse, och wie lecker!", verspricht sie, ständig in Bewegung, Holzlöffel in der Hand.

Tante Malvin ist nicht nur eine sehr aktive und nette ältere Dame, sie ist auch Roma - und das Herz eines besonderen Budapester Restaurants, das seit drei Jahren immer mehr Einheimische und sogar ausländische Besucher anzieht. Mindestens zweimal im Monat gehen die Türen der kleinen Wohnung im neunten Bezirk auf, die deftigen Gerichte landen bald auf den Tellern, und die Gäste werden neugierig. "Jede Speise hat für uns ihre Geschichte und ihre Wurzeln in unserer Familientradition", erzählt die Rentnerin. "Hier kochen wir ausschließlich nach traditionellen Roma-Rezepten, die den meisten Ungarn noch nicht so bekannt sind." Romani Platni basiert auf einer einfachen Idee: Es ist überhaupt das erste Roma-Restaurant in Budapest, und es hat vor allem das Ziel, die Mehrheitsbevölkerung mit einer anderen Geschmackswelt vertraut zu machen. "Zwar ist die Roma-Küche nicht besonders raffiniert wie etwa die französische, aber sie setzt auf starke Kontraste und heftige Noten. Das macht sie durchaus interessant", fügt Éva Kisné, eine der jüngeren Köchinnen aus dem Team.

Mehr als nur ein Restaurant

Rund 20 Gäste, meistens aus der gut gebildeten Mittelschicht, sind an diesem Donnerstagabend gekommen, um die Leckereien zu probieren. "Es ist bestimmt kein Magerquark und nichts für Vegetarier", sagt Kata, eine junge Jusstudentin, nachdem sie mit dem Hauptgericht fertig wird. "Dennoch kann ich den Ort nur empfehlen, alles schmeckt prima und das Konzept ist super. Es ist eigentlich viel mehr als ein Restaurant." In der Tat geht es in der Erdgeschoßwohnung nicht nur um Kulinarik, sondern um soziales Unternehmertum. In Ungarn sieht der Alltag der Roma nämlich düster aus. Armut, Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit prägen seit eh und je ihre kleinen Dörfer und auch diejenigen, die in der Hauptstadt wohnen, sind oft arbeitslos und haben kaum Chancen auf sozialen Aufstieg.

Zudem ist unter Viktor Orbáns rechtspopulistischer Regierung mit keiner staatlichen Unterstützung für unabhängige Roma-NGOs mehr zu rechnen. Doch diese kleine, originelle Initiative gibt jetzt älteren Roma-Frauen aus dem Budapester neunten Bezirk die Möglichkeit, ihre Kochkunst zu zeigen, einen wichtigen Teil der Roma-Kultur bekannt zu machen und damit gegen Diskriminierung und Stereotypen zu kämpfen. Das Projekt wurde 2012 ins Leben gerufen: Ferencvárosi Tanoda, ein Verein aus der Nachbarschaft, der sich bis dato hauptsächlich auf die Verbesserung der Schulleistung von Roma-Kindern konzentriert hatte, beschloss damals, seine Programme zu erweitern. "Irgendwann haben wir angefangen, uns auch Gedanken über die Eltern und Großeltern dieser Kinder zu machen", erinnert sich Projektmanagerin Krisztina Nagy. "Weil viele ältere Roma-Frauen kaum Arbeitserfahrung und damit auch keinerlei Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatten, haben wir uns die Frage gestellt: Was können die denn machen? Und natürlich können viele besonders leckere traditionelle Gerichte kochen. Also haben wir ihnen vorgeschlagen, ein Restaurant zu eröffnen."

Positive Schlagzeilen

Tante Malvin und ihre Nachbarinnen, die früher immer wieder auf Sozialhilfe angewiesen waren, fanden die Idee entzückend: Zum einen mache es richtig Spaß, zusammen in der Küche zu arbeiten, zum anderen sorge ein solches Projekt endlich für positive Schlagzeilen über die Roma. "Jeden Tag hört man nur von Arbeitslosigkeit oder Analphabetismus. Schluss damit, jetzt machen wir halt auch was Schönes", sagt Tante Malvin und lächelt stolz. Das vom ungarischstämmigen Milliardär George Soros gegründete Budapester Institut für eine Offene Gesellschaft (OSI) fand die Idee ebenfalls sehr gut - und stellte dafür gleich rund 10.000 Euro zur Verfügung. "Davon konnten wir eine kleine Wohnung im Erdgeschoß entsprechend einrichten und eine günstige Werbekampagne organisieren, die sich hauptsächlich auf die neuen sozialen Medien konzentrierte", erzählt Projektmanagerin Nagy. "Alles andere hätte dieses Minibudget natürlich überschritten, aber der Großteil unserer Gäste sind sowieso jüngere Leute, die sich hauptsächlich im Internet informieren."

Die Rechnung ging auf: Über die sozialen Netzwerke werden seitdem fast immer sämtliche verfügbare Plätze manchmal mehrere Wochen im Voraus reserviert. Kurz nach der offiziellen Eröffnung meldete sich sogar die Führung der ungarischen Polizei mit der Anfrage, ob die Damen anlässlich eines internen Events für eine Gruppe von 400 Beamten vielleicht kochen könnten. "Klar können wir", kam Tante Malvins Antwort. Das kleine Wohnungsrestaurant wurde immer bekannter. "Den Köchinnen konnten wir am Anfang nur eine symbolische Aufwandsentschädigung zahlen", erklärt Initiatorin Krisztina Nagy. "Doch das war sozusagen Teil des Deals. Unser Ziel ist nicht, selber Arbeitsplätze zu schaffen, sondern den Menschen eine Chance zu geben, später ihr eigenes Kleinunternehmen zu gründen."

In der Tat erwies sich die Initiative als eines der erfolgreichsten Beispiele nachhaltigen sozialen Unternehmertums in Ungarn. Im ersten Jahr konnten jede zweite Woche 15 bis 25 Gäste bekocht werden, jetzt kommen zahlreiche Sonderabende und Events dazu. Die Wohnung in der Tüzoltó utca bekommt immer wieder neue Einrichtungen, die Ausstattung der Küche wird ständig verbessert. Nach dem Abendessen treten oft Roma-Bands auf und sorgen für die passende Stimmung. Und als das kleine Restaurant von einigen internationalen Reiseportalen empfohlen wurde, tauchten die ersten ausländischen Touristen auf. Seitdem bietet die Webseite des Projekts auch Informationen in englischer Sprache an.

Erweiterung in Planung

Romani Platni hat sich als eine kleine Institution der ungarischen Zivilgesellschaft etabliert, die Köchinnen bekommen ständig Einladungen und überlegen jetzt, das Geschäft zu erweitern, indem sie parallel zum gemeinschaftlichen Projekt ihren eigenen Laden öffnen. Dabei soll die Devise "nur traditionelle Roma-Gerichte" weiter gelten, versichert Tante Malvin. Als Testballon fingen die Frauen bereits vor einigen Monaten mit einer kleinen Bäckerei, die hauptsächlich Bodag, ein offenfrisches, riesiges Weißbrot aus Hefeteig anbietet. Bisher läuft es sehr gut mit dem Brotverkauf, "morgens stehen die Ungarn Schlange vor unserer Tür", lacht Éva Kisné. "So etwas konnte ich mir vor drei Jahren nur erträumen."