Wien - Zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung haben die Menschen in Ost und West die innere Einheit noch nicht vollzogen. Die Mauer in den Köpfen ist geblieben, auch wenn sie allmählich zu bröckeln beginnt. Den Menschen im Osten geht es deutlich besser als noch vor wenigen Jahren, doch von Helmut Kohls einst prophezeiten "blühenden Landschaften" sind die Ostdeutschen noch weit entfernt: Nach der anfänglichen Euphorie hat sich bei Vielen Ernüchterung breit gemacht.
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Nach dem ersten Bauboom und unzähligen Werksgründungen sind heute viele der Betriebe, die im Zuge der Privatisierung meist von westlichen Unternehmern aufgekauft wurden, wegen mangelnder Produktivität wieder geschlossen worden. Damit wuchs das Heer der Arbeitslosen, obwohl vom Bund in den Aufbau-Ost seit der Wende knapp 12 Billionen Schilling (1,7 Bill. Mark) flossen. Heuer liegt die Arbeitslosenquote mit 17 Prozent sogar um ein Fünftel höher als noch vor fünf Jahren. Von Verhälnissen wie im Westen, wo sie sich von 9,1 auf 7,4 verringerte, können die "Ossis" nur träumen.
Auch bei der Konjunkturentwicklung, die Westdeutschland für 2000 ein Wachstum von 2,7 Prozent progostiziert, können die neuen Bundesländer nicht mithalten. Nach Schätzungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft kann mit einer Steigerung von höchstens 2,4 Prozent gerechnet werden. Dadurch wird sich der ohnehin schleppende Aufholprozess weiter verlangsamen, klagen Experten.
Hans-Werner Sinn vom Münchner Ifo-Institut sieht den Grund für diese Entwicklung vor allem in für den Wirtschaftsstsandort Ost zu hohen Gehältern. "Löhne, die zu einer leistungsfähigen und produktiven Region passen, wurden einer weit weniger produktiven Region übergestülpt". Dadurch würden notwendige Investitionen ausbleiben und Arbeitsplätze abgebaut, so der Ifo-Experte. Tatsächlich liegen die Durchschnittsgehälter in den sechs neuen Bundesländern um ein Viertel niedriger unter jenen in den alten, während die Produktivität (BIP pro Erwerbstätigen) 40 Prozent unter der in Westdeutschland liegt. Die Koalitionsregierung unter dem CDU-Kanzler Kohl hatte 1990 danach getrachtet, die Angleichung der Lohnkosten zwischen Ost und West im Zuge der Auflösung der DDR-Währung rasch durchzuziehen.
Einen erheblichen Beitrag zur Arbeitsplatzbeschaffung leisten die - allerdings noch spärlich gestreuten - modernen Hochtechnologie-Betriebe wie der Chiphersteller Infineon in Dresden oder das Opel-Werk in Eisenach. Porrsche will in Kürze bei Leipzig eine Produktionsstätte errichten. Auch mittelständische Unternehmen wie die bekannte Jenaoptik oder Klassiker wie Rotkäppschen-Sekt oder die Meißener Porzellan-Manufaktur konnten sich erfolgreich etablieren.
Trotzdem rutschen immer mehr Ostdeutsche unter die Armutsgrenze. Jeder Zehnte muss mittlerweile mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens auskommen: Da sich nicht nur die Löhne, sondern auch die Preise für den täglichen Lebensbedarf dem westdeutschen Standard weitgehend angenähert haben, für Viele eine schier unlösbare Aufgabe. Schwer haben es die Jugendlichen. Sofern sie nicht mit einer guten Ausbildung in der Tasche einen der begehrten Jobs in den begehrten Mittel- und Großbetrieben ergattern, sehen ihre Zukunftschancen meist sehr trist aus.
Nostalgiewelle
Viele Ostdeutsche, die sich vor zehn Jahren im Zuge der friedlichen Revolution gegen das autoritäre SED-Regime auf die Straße wagten und "wir sind das Volk" schrien, begruben mittlerweile ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft und ergehen sich heute lieber in nostalgischen Erinnerungen an die gute alte Zeit. Diese "Glorifizierung" hält Joachim Gauck, bis gestern Leiter der Stasi-Archive, für eine "merkwürdig pubertäre Art" der Vergangenheitsbewältigung, auch wenn man die Empfindungen dieser Menschen nicht einfach vom Tisch wischen könne.
Die Hälfte der Ostdeutschen sieht sich inzwischen als "Bürger zweiter Klasse". Immer mehr fühlen sich von den Umwälzungen nach dem Mauerfall überrannt und vom Westen samt seinen Wohlstands-Versprechungen verraten. "Früher hat die SED wenigstens für unser Wohl gesorgt. Wir können das ganze Politiker-Gequatsche von Einheit und Demokratie nicht mehr hören", macht ein ehemaliger Werftarbeiter aus Schwerin seinem Unmut Luft. Aussagen wie diese hört man in der ehemaligen DDR immer öfter, und sie müssten angesichts der jüngsten Umfragen zu denken geben: Zwar wünschen sich nach einer Befragung des Forsa-Instituts vom Vorjahr nur 14 Prozent der Ostdeutschen die Mauer zurück, doch 71 Prozent sind mit dem politischen System in ihrem Land unzufrieden. Zwei Drittel halten zudem die Planwirtschaft für weit menschlicher als das praktizierte.
"Modernisierungsschock" nennt das der Münchner Politologe und einstige Kohl-Berater, Werner Weidenffeld. "Sie träumten vom Paradies und wachten in Nordrhein-Westfalen auf", erläutert Gregor Gysi, der bis gestern als Fraktionschef der reformkommunistischen PDS im deutschen Bundestag saß, seine Sicht der Dinge. Für den ostdeutschen Bürgerrechtler Jens Reich hätte der Wiedervereinigung eine gemeinsame Grundwerte-Debatte vorangehen müssen. Doch so hätte die Zeit der Wende, resümierte er kürzlich, mentale und psychische Narben hinterlassen, die ein deutsch-deutsches Zusammenwachsen unmöglich machen. "Die innere Einheit wird eine Illusion bleiben". Doch diese Ansicht teilt kaum jemand. Wirtschaftsfachleute und Sozialwissenschaftler verweisen auf die enormen Anforderungen an einen solchen Transformationsprozess. "Ein Vereinigungsprozess bedarf Generationen, das ist nicht in 20 Jahren zu machen", sagt Klaus Burmeister vom Büro für Zukunfsfragen in Essen.