Stephen Holmes, US-Professor für Verfassungsrecht, über "illiberale Demokratie", Poltikverdrossenheit, Putinismus und Orbán.
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Wiener Zeitung": Die "illiberale Demokratie" scheint gerade sehr in Mode zu sein: in Ungarn, der Türkei, Russland. Warum ist das so?
Stephen Holmes: Da muss ich ein wenig ausholen. Es laufen drei historische Wandlungsprozesse parallel ab: der Niedergang der amerikanischen Macht, die Krise der Europäischen Union und der Aufstieg Chinas. Letzterer hat den Nachkriegsglauben erschüttert, dass ökonomischer Aufstieg und Demokratie zwangsläufig zusammengehen. China ist eben keine liberale Demokratie - hat aber höheres Wachstum als die meisten anderen Länder und das Regime der Kommunistischen Partei Chinas hat zudem sehr viele Menschen aus der Armut geholt. Dadurch wird das Image der Demokratie als dominierende Ideologie geschwächt. Das ist eine neue Erfahrung: Die Vereinigten Staaten und der Westen haben Nazideutschland geschlagen, und der Westen hat die Sowjetunion im Kalten Krieg besiegt.
Die kapitalistischen Demokratien haben sich als stärker und widerstandsfähiger erwiesen als die kommunistische Autokratie Sowjetunion. Wer allerdings aus dem Ringen mit China, einer kapitalistischen Autokratie, siegreich hervorgehen wird, ist weniger klar. Klar ist: Es gibt einen Niedergang des Prestiges der liberalen Demokratie. Die Nachkriegsordnung wird von China auch durch die billigen Arbeitskräfte herausgefordert. Denn auf diese Weise wurde die Wettbewerbsfähigkeit etwa in Italien zerstört. Nicht der Euro hat die Wettbewerbsfähigkeit Italiens unterminiert, sondern China mit seiner niedrigen Löhnen. Die Weltwirtschaftskrise von 2008 hat die Stabilität der kapitalistischen Ordnung infrage gestellt, weil die kapitalistischen Systeme von Superreichen manipuliert wurden.
Noch schwerer wiegt die Diskreditierung der Demokratisierungsprojekte durch die Kriege von George W. Bush im Irak und Afghanistan. Auch die EU hat sich zu Hybris verführen lassen. In Brüssel hat man bisher so getan, als könnte das europäische Projekt die Länder an der Peripherie der EU in lupenreine Demokratien in umwandeln. Am Beispiel Ungarn zeigt sich, dass das nicht wirklich funktioniert. Viktor Orbán nimmt das Geld der EU - und spuckt den Brüsseler Institutionen ins Gesicht und macht genau das Gegenteil von dem, was ein Demokrat machen sollte. Wenn man wie Orbán die Presse kontrolliert, wenn man wie er den Bürgern den Zugang zu unabhängiger Information verwehrt, dann kann man nicht von Demokratie sprechen.
Wie schätzen Sie das politische Klima in Ungarn ein?
Orbán hat Umstände geschaffen, die manchen Ungarn so unangenehm sind, dass mehr als 600.000 Bürger das Land verlassen haben. Orbán ändert auf diese Weise die Zusammensetzung der Wählerschaft, in dem alle liberalen Wähler, die Fremdsprachen gelernt haben, aus dem Land geekelt werden. Wie lautet noch dieser Spruch: Es ist leichter, das Land zu wechseln, als sein Land zu ändern. Orbán hat das alte Gedicht von Bertolt Brecht verwirklicht und sich ein neues Volk gewählt. Orbán versuchte zuletzt mit Xenophobie zu punkten. Damit scheint er einem Teil der Bevölkerung aus dem Herzen zu sprechen. Es gibt nicht nur in Ungarn einen Mangel an Toleranz. Toleranz - ein für die Idee des Liberalismus so zentraler Begriff - scheint die Ideologie der Reichen geworden zu sein. Die Mittelschicht-Hausfrau, die gerne möchte, dass jemand ihre Hausarbeit erledigt, der Industrielle, der Arbeitskräfte braucht, oder der Hotelier, der Küchenpersonal sucht, stehen Einwanderung positiv gegenüber. Aber Menschen der unteren sozialen Schichten erzielen keinen sichtbaren Vorteil aus dieser Migration und sehen sich am Arbeits- und Wohnungsmarkt in Konkurrenz zu den Neuankömmlingen und stehen Zuwanderung daher sehr negativ gegenüber. Toleranz, eine Schlüsselidee der Zivilisation, wird heute in Europa und Nordamerika als das Interesse einzelner sozialer Schichten wahrgenommen. Das bedeutet, dass sich ganze Schichten gegen die Idee des Liberalismus wenden.
Aber zurück zu Orbán: Er ist Opportunist, hat einen Riecher für gesellschaftliche Stimmungen. Man kann ihn nicht aus der EU werfen, nur weil er gegen Zuwanderer ist. Denn die Union selbst ist ja gegen Zuwanderung, beziehungsweise: Es gibt in einer Vielzahl der Länder der EU ausländerfeindliche Parteien: Ungarn, Frankreich, Finnland, Dänemark, die Niederlande, Schweden, Italien und Österreich. Orbán steht nicht allein.
Auf die Wirtschaftskrise 2008 folgte eine Demokratie-Krise. Warum?
Es gibt eine globale Desillusionierung mit der liberalen Demokratie, die weiter zurückgeht als 2008. In den USA ist die Nähe zwischen Geld und Politik wirklich schändlich. In Europa ist das Problem anders gelagert: Die Bürger haben das Gefühl, dass sie zwar ihre Stimme abgeben können, aber am Ende die Märkte entscheiden. Oder Brüssel. Oder die Banken. Egal wen man wählt, man bekommt immer dasselbe Resultat. Die Idee der Demokratie sollte aber sein, dass Bürger die Politiker kontrollieren. Nun stellt sich aber heraus: Die Wähler haben keine Kontrolle über die Politiker. Und das schwächt die demokratische Idee. Man kann den Erfolg der Bewegung der illiberalen Demokratie nicht von der Aushöhlung der demokratischen Idee trennen. Wenn die Menschen nicht nach ihren Interessen, nicht nach dem Kopf wählen können, wählen sie eben nach dem Bauch. Ähnlich ist es mit der Frage der Identität. Vertreter der Tea-Party-Fraktion der Republikanischen Partei stellen die Ängste mancher Menschen vor Zuwanderung auf diese Weise dar: Ein weißes Stückchen Zucker löst sich langsam in einer schwarzen Tasse Kaffee auf. Die Weißen würden in der Flut von Schwarzen und Mexikanern oder von wem auch immer untergehen. Das ist natürlich alles hochgradig irrational.
Woher kommt das?
Der Grund ist, dass die Menschen nicht über wirtschaftliche Fragen mitbestimmen können. Man kann zwar wählen, wen man will, das hat aber keine Auswirkungen auf Steuern oder sonst irgendetwas. Und in Europa hat Brüssel eine Vielzahl von Entscheidungen und Kompetenzen an sich gezogen, da ist das Gefühl der Ohnmacht noch stärker. Die Menschen wurden Ethno-Chauvinisten und Identität wurde zu einer zentralen Frage für viele. Man sollte also nie die Wirtschaftspolitik aus dem Kontrollrahmen der Politik ausnehmen. Denn wenn der Weg zur Wahl nach Interessen versperrt wird, wird nach Emotionen gewählt.
Gibt es eine Nähe zwischen der Politik Viktor Orbáns und jener Wladimir Putins?
Der Unterschied zwischen Viktor Orbán und Wladimir Putin: Fidesz ist eine politische Partei. Derzeit ist Ungarn eine Art Ein-Parteien-Staat. Aber Putins Russland ist ein Kein-Parteien-Staat. Jedinaja Rossija - Putins Partei Einiges Russland - existiert ja nur als Hülle. Es geht nur um Putin, die Partei existiert eigentlich nicht. Fidesz existiert - zumindest irgendwie. Putin wählt die Menschen, gegen die er antritt. Es gibt zudem keinen plausiblen Kandidaten, der gegen ihn antreten könnte. Orbán versucht aber ein Propagandakonzept Putins zu kopieren. Putin sagt: Die ganze Welt steht gegen Russland. Er, Putin, schütze die Nation vor den Machinationen der Außenwelt. Das ist natürlich ein gängiges Rezept von Herrschern, die ihrem Volk nichts anzubieten haben: Erfinde einen Feind und tue zumindest so, als würdest Du Dein Volk vor diesen Anderen schützen. Russland ist aber kein monoethnischer Staat. Da gibt es viele Andere. Ungarn - abgesehen von ein paar Minderheiten - ist sehr wohl monoethnisch.
Sehen Sie eine Chance auf eine Renaissance der liberalen Demokratie?
Ohne sie hätte es das britische Empire wohl nicht gegeben. Und die USA haben die Welt wohl auch deshalb das vergangene Jahrhundert dominiert, weil sie mit der liberalen Demokratie die überlegene Regierungsform hatten. Liberale Demokratien haben eine Menge intellektueller Ressourcen und sind sehr anpassungsfähig und kreativ. Im Moment steht Europa vor der Herausforderung der Zuwanderung. Was allen Europäern klar sein sollte: Die Einwanderer werden nicht einfach über Nacht verschwinden und es wollen noch viele kommen. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: entweder Pluralismus und Integration oder Gewalt auf den Straßen. Andere Alternativen gibt es nicht: Denn die Idee, dass man in einen Krieg zieht, um wieder homogene Gesellschaften zu schaffen, ist verrückt.
Und die Vorstellung, Migration mit Mauern einzudämmen?
Das wird nicht funktionieren. Also muss man Wege finden, wie man mit diesen Entwicklungen leben kann.
Zur Person
Stephen Holmes
studierte an der Yale-Universität in den USA und lehrt an der New York University School of Law. Zuletzt war der Amerikaner Gast am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.