Auch in Schweden wurden mutmaßliche Übergriffe von Flüchtlingen verheimlicht. Die Schwedendemokraten fordern einen Aufnahmestopp für Flüchtlinge und erreichen in Umfragen bereits 20 Prozent.
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Stockholm/Köln. Es ist eine Art Donauinselfest Nordeuropas: 850.000 Besucher kamen alleine im vergangenen August nach Stockholm zum sechstägigen Spektakel "We are Sthlm". Der Zungenbrecher ist eine Abkürzung für die schwedische Hauptstadt. Neben Musik gibt es alljährlich auch Rahmenprogramm und Workshops. "Respect and Self-respect" hieß einer der Programmpunkte 2015. Die Teilnehmer konnten dabei lernen, dass trotz ausgelassener Stimmung auch auf einem Festival Regeln herrschen. Grenzen, die anscheinend 2014 und 2015 dutzendfach überschritten wurden: 38 angezeigte Fälle sexueller Belästigung, darunter zwei Vergewaltigungen, zählte die Polizei. Die schwedische Zeitung "Dagens Nyheter" berichtet nun unter Berufung auf interne Polizeidokumente, dass sich unter den Verdächtigen 50 afghanische Flüchtlinge befinden.
Schweden erlebt damit seinen Köln-Moment: Wie die Polizei in der Rheinmetropole zu Silvester veröffentlichten auch die Stockholmer Kollegen erst einen Bericht, wonach das Festival weitestehend ruhig verlaufen sei. Rein quantitativ, gemessen an der Besucherzahl, mag das stimmen. Aber ganz und gar nicht für die Tatbestände, die erst so spät ans Licht der Öffentlichkeit gelangt sind. Dauerte es in Köln vier Tage, bis das ganze Ausmaß an sexueller Belästigung und Diebstahl mit hunderten Involvierten und 533 Anzeigen bekannt wurde, sind in Stockholm gar sechs Monate beziehungsweise eineinhalb Jahre vergangen. Gegen einen 15-Jährigen hat die schwedische Staatsanwaltschaft Anklage erhoben, wie am Dienstag bekannt wurde; er soll zwei 14-jährige Mädchen sexuell belästigt und geschlagen haben. Der Beschuldigte spricht von einer Verwechslung.
Wer die Anweisung zur Vertuschung in Stockholm gab, ist noch nicht klar. Warum es geschah, gesteht der Einsatzleiter der Polizei bei dem Festival, Peter Agren, offen ein: "Mitunter wagen wir nicht zu sagen, wie die Dinge wirklich sind, weil wir fürchten, es spielt den Schwedendemokraten in die Hände."
Selbstanspruch und Wirklichkeit
160.000 Flüchtlinge sind 2015 ins 10-Millionen-Land gekommen - pro Kopf so viele wie nirgends sonst in der EU. Die sozialdemokratisch-grüne Minderheitsregierung führt die Rolle als "humanitäre Supermacht" fort, die die Vorgängerregierung unter dem Konservativen Premier Fredrick Reinfeldt so definierte. Regierungschef Stefan Lövfen stößt dabei an Grenzen der Aufnahmefähigkeit und Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung. Erst in der vergangenen Woche nahm Schweden die Grenzkontrollen zu Dänemark wieder auf, um den Zuzug besser zu kontrollieren.
Je mehr hehrer Selbstanspruch und Wirklichkeit bei der Regierung auseinandergehen, desto mehr profitieren die Schwedendemokraten. Sie kommen in Umfragen mittlerweile auf knapp 20 Prozent, liegen nur mehr 8 beziehungsweise 4 Prozentpunkte hinter Sozialdemokraten und der konservativen Moderaterna. Schwedendemokraten-Chef Jimmie Akesson fordert einen Aufnahmestopp für Flüchtlinge und will das Land aus der EU führen.
Sowohl Premier Löfven als auch Moderaterna-Vorsitzende Anna Kinberg Batra verlangen von der Polizei eine schonungslose Aufklärung der Vorfälle. Es mache ihn sehr zornig, wenn junge Frauen nicht zu einem Festival gehen könnten, ohne sexuell belästigt und attackiert zu werden, ließ der Premier wissen und versicherte: "Wir werden nicht einen Zoll weichen und wegschauen."
Allerdings lebten die arrivierten Parteien jahrelang in Integrationsfragen ebenjene Politik des Wegsehens vor; über Arbeitslosigkeit, mangelnde Ausbildung und Gewalt unter Migranten wurde nur zaghaft diskutiert, um den Schwedendemokraten keine Angriffsfläche zu bieten. Das begünstigte den Aufstieg der Schwedendemokraten erst recht, und das bereits vor ihrem jetzigen Umfragehoch: So konnten sie bei der Parlamentswahl 2014 den Stimmanteil von 5,7 auf 12,9 Prozent mehr als verdoppeln.
Die Abneigung von links bis rechts gegen die Schwedendemokraten ist zwar historisch gut begründet, schließlich pflegten bedeutende Mitglieder Verbindungen zu neonazistischen Gruppen. Eine derartige Vergangenheit hatten die norwegische Fortschrittspartei, die Dänische Volkspartei und die "Partei der Finnen" nicht. Alle drei sind in ihren Ländern mittlerweile Teil der Regierung oder stützen diese. In Stockholm gelten die Schwedendemokraten hingegen bis heute als parlamentarischer Paria, wiewohl auch sie rhetorisch moderater als früher auftreten. Auf europäischer Ebene grenzen sich wiederum die Schwedendemokraten ab, sie wollten nicht einer Fraktion mit FPÖ und Front National beitreten.
Schnellere Abschiebungenaus Deutschland
Schwedens Mainstream-Parteien stehen nun vor der schwierigen Aufgabe, eigene Fehler in der Integrationspolitik einzugestehen und diese von der aktuellen Flüchtlingsfrage zu entkoppeln, um den Schwedendemokraten nicht noch mehr Auftrieb zu verschaffen. Leicht wird das nicht, denn die Ereignisse von Stockholm waren kein Einzelfall: In der Silvesternacht wurden Teenager in der südschwedischen Stadt Kalma in Gruppen angegriffen. Die Polizei gab die Identität der Verdächtigen nicht bekannt, laut Verhören sprachen die meisten von ihnen jedoch nicht Schwedisch.
In Deutschland einigten sich CDU und SPD indes am Dienstag, die Abschiebung von straffälligen Ausländern zu erleichtern. Selbst innerhalb der Koalition gibt es Bedenken ob der Umsetzung: So verwies Nordrhein-Westfalens sozialdemokratische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, jene Algerier und Marokkaner, die in Köln an sexuellen Belästigungen und Diebstählen beteiligt gewesen sein sollen, würden von ihren Heimatländern gar nicht aufgenommen werden.